Philosophie Gehlen - MÄNGELWESEN - Technik als Organersatz

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Diese Vorstellung von Arnold Gehlen des Menschen als Mängelwesen ist nicht neu. Sie taucht z.B. im Prometheus-Mythos auf, den Platon erzählt (nach Wikipedia):

„Prometheus wird bei Platon mehrmals thematisiert, besonders erwähnenswert ist aber die Stelle im Protagoras: Epimetheus (Bruder des Prometheus) soll den Lebewesen Eigenschaften zuordnen. Er übernimmt diese Aufgabe und lässt sich dann von seinem Bruder, Prometheus, kontrollieren. Zuerst wird er einmal gelobt: Epimetheus hat den Tieren gerecht verteilt Eigenschaften gegeben: Die Schnellen sind klein, die Wehrlosen haben zahlreichen Nachwuchs, ein ausgewogenes Verhältnis aller Arten ist gewährleistet.

Doch dann entdeckt Prometheus ein kleines, nacktes Wesen: den Menschen. Er ist leer ausgegangen, denn keine Eigenschaft ist mehr übrig geblieben. So sieht sich Prometheus gezwungen, für den Menschen das Feuer und die Weisheit der Athene, die Kunstfertigkeit des Hephaistos und andere zum Überleben wichtige Fähigkeiten zu stehlen, wie das Weben.

Doch damit ist das Problem nicht gelöst: Die Menschen, die sich aus Schutz vor den Tieren in Städten („Poleis”) zusammenschließen, töten einander, weil sie Scham und Mitgefühl, die staatsbürgerliche Kunst – so Platon – nicht haben.

Um diese Gattung nicht zu verlieren, sieht sich Zeus gezwungen, später Hermes mit ebendiesen Fähigkeiten auf die Erde zu schicken und sie, im Gegensatz zu den anderen Fähigkeiten, gerecht unter allen zu verteilen. Platon: „Ja, du [Hermes] sollst in meinem Namen das Gesetz geben, dass, wer nicht imstande sei sich Scham und Recht zu eigen zu machen, dem Tod verfallen sei; denn er ist ein Geschwür am Leibe des Staates.“

Typisch für Platon ist dabei, dass alles „von oben“ kommt. Für Epikur und die ihm nachfolgenden Empiristen – wozu auch Gehlen gehört – geht es um Erklärungen, wie sich die Fähigkeit, komplizierte Instrumente zu erfinden als Ergänzung wenig ausgeprägter eigener Eigenschaften entwickelt hat, wie scharfe Krallen durch Speere und scharfe Zähne durch das Messer ersetzt wurden und jetzt später die Kurzsichtigkeit (gemessen am Adler) durch das Fernglas. Grundlegend dafür war und ist die gesellschaftliche Organisation, die Entwicklung der Sprache als Kristallisationsinstrument für eine abstrakte Vorstellungsfähigkeit und die damit entwickelte intensive Kommunikation.

Der Mensch, der sozusagen mit einem Bein in der Natur steht, mit dem anderen aber als kulturelles Wesen außerhalb und die Natur nutzend, hat sich immer schon als „irgendwie gespalten“ erlebt. Auch im Paradies-Mythos kommt diese Trennung als „Urerlebnis“ zum Ausdruck.

Die Vorteile sind alle Errungenschaften, die der Mensch als Kulturwesen und „Herr über die Natur“ erreicht hat. Darauf bilden wir uns viel ein. Die Nachteile ins Auge zu fassen, fällt uns schwerer. Denn die Fähigkeit, abstrakt zu denken hat uns zu profanen wie religiösen Ideologien verführt, was über die Geschichte verteilt immer wieder mit viel Blut bezahlt wurde. Unsere Fähigkeit des „funktionalen Denkens“ hat uns dazu gebracht, dass wir zwar Handys und Tabletts erfunden haben, aber noch immer kein stabiles, natürliches Selbstbewusstsein. Statt wie die Steinzeitmenschen mit der dicksten Keule protzen wir mit dem tollsten Handy. Doch eine Technik, wie wir ein gesundes Selbstwertgefühl ohne alle diesen Klimbim entwickeln können, haben wir seit der Steinzeit noch nicht.

Gar keine. Es ist insofern richtig, dass der Mensch Technik aufgrund seiner Hilfsbedürftigkeit entwickelt hat. Aber zum Mängelwesen wurde er aufgrund der Zivilisation. Aufgrund dessen, dass er schnellstens eine Krücke erfand, wenn es einen Mangel gab. Anstatt die Augen zu stärken, wird eine Brille gesetzt. Anstatt die Zähne zu stärken werden die Grundlagen für ein gesundes Gebiss zerstört und dann rennen wir um sie unter hohem Kostenaufwand zu restaurieren. Jedes künstliche Teil nimmt Dir ein Stück Fähigkeit das Leben und den Sinn des Lebens zu fühlen. Schließlich wirst Du den Zustand erreichen, den man uns mit Gewalt anerziehen will: Du wirst nur noch funktionieren. Aber wozu dann noch leben?

Ich will weder Organersatz noch will ich eine künstliche Lebensverlängerung. Das habe ich klar geordnet. Ich will dieses herrliche Leben mit all seinen Höhen und Tiefen bewusst erleben und wenn es so weit sein sollte, werde ich auf die andere Seite des Lebens gehen und sehen, was dann auf mich zukommt. Aber - wie lange oder wie kurz auch mein Leben sein mag - ich kann sagen: Ich habe es erlebt.

Arnold Gehlen mag ein Mängelwesen sein. Das will ich ihm nicht absprechen. - Ich bin es nicht.