Könnt ihr euch noch an den Mauerfall und die Zeit danach erinnern?

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Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Ja, ich kann mich noch sehr gut erinnern.

Ich war zarte 11 und gerade in meinem Zimmer, als meine Mutter unten von der Treppe her rief, dass ich runterkommen solle, weil etwas krasses passiert sei.

Das tat ich entsprechend und fand meine Mutter total aufgeregt vor dem TV stehend vor, wo die Berichterstattung lief. Da ich das erstmal nicht so richtig kapiert habe, erklärte sie mir, dass das bedeutet, dass wir nun in den Westen fahren können.

Mein Vater war noch auf der Arbeit und meine Schwester irgendwo in der Stadt unterwegs mit ihren Freundinnen.

Kurz darauf stand mein Opa vor der Türe - genauso aufgeregt wie wir und meinte man könne sich nun bei der Polizei Visa holen und auch, dass er schon mit seiner Schwester in Westberlin telefoniert und angekündigt hat, dass wir noch heute zu Besuch kommen würden.

Wir sind dann zu dritt ins Auto und durch die Stadt gefahren, um meine Schwester zu suchen. Es waren ungewöhnlich viele Leute unterwegs und vor der Kirche hatten sich mehrere versammelt. Mein Opa deutete alle Nase lang mit dem Kopf aus dem Fenster und murmelte ''Stasi''.

Die Situation hat sich irgendwie eingebrannt, weil sie eine Mischung aus Vorfreude, Aufregung, aber auch etwas Angst war.

Nach einer Weile fanden wir dann meine Schwester, die mit ihren Freundinnen an einer Busstelle rumsaß und die gar nichts mitbekommen hatte, von dem was passiert war.

Wir fuhren direkt zur Polizei und stellten uns an, wegen der Visa.

Als wir dann nach Hause kamen, war auch mein Vater da. Anders als meine Mutter und wir Kinder war er gar nicht begeistert von der Idee noch am gleichen Abend nach Berlin zu fahren. Daraus entbrannte ein Streit zwischen meinen Eltern und das Ende vom Lied war, dass meine Mutter dann trotzig die Visa zerriss, was wiederum uns Kinder in dramatisches Geheule verfallen ließ.

Daraufhin gab dann mein Vater nach. Also sind wir nochmal zur Polizei, neue Visa geholt und dann gemeinsam mit den Großeltern nach Berlin gefahren.

Die U-Bahn war proppevoll - generell waren überall viele Menschen unterwegs und ich war so aufgeregt, dass mir hörbar die Zähne klapperten. Durch die Kontrolle kamen wir problemlos und recht zügig und standen dann plötzlich auf Westdeutschem Boden.

Tragischerweise war ich erstmal total enttäuscht. Ich hatte aus irgendwelchen Gründen erwartet, dass überall Leuchtreklame hängt und alles blinkt und glitzert - mal überspitzt gesagt. Stattdessen war es eigentlich nicht anders als bei uns.

Wenig später kamen wir dann bei meiner Großtante an, bei der 2 Pflegekinder in meinem Alter lebten. Es gab irgendein Fertiggericht aus der Mikrowelle und den Rest des Abends wurde mit den beiden Kindern gespielt.

Erst am nächsten Morgen ging's dann los alles anschauen. Ich bekam mein ersehntes Eis (und war dann ziemlich ernüchtert, weil es tatsächlich gar nicht so lecker war), ne Bravo und ein paar Turnschuhe, was vom Begrüßungsgeld bezahlt wurde.

Ein paar Stunden später fuhren wir dann wieder nach Hause.

Ich weiß noch, dass es dann irgendwann endlich auch die Bravo bei uns am Kiosk gab, aber hoffnungslos überteuert bis dann irgendwann auch die D-Mark bei uns eingeführt wurde.

In den Folgemonaten gab's dann erste Veränderungen in der Schule. Wir durften nun wählen, ob wir weiterhin Russisch als Fremdsprache lernen wollen oder Englisch.

Aus den zuvor 2 Klassen des Jahrgangs wurde eine dritte Klasse geformt, um die Klassen jeweils zu verkleinern. Aus zuvor jeweils über 30 Schülern entstanden dann 3 Klassen a ca. 20 Schüler.

Gleichzeitig fielen sämtliche AGs (sowas wie Vereine) und auch der Schulchor weg und die Musikschule, in der ich bis dahin regelmäßig zum Instrumente lernen war, fiel ebenfalls flach, weil nicht mehr gefördert und damit zu teuer.

Meine Eltern verloren beide ihre Arbeit und damit war dann auch der jährliche Sommerurlaub an der Ostsee nicht mehr drin, was ich richtig ätzend fand, weil ich es dort echt geliebt habe.

Generell lernte ich nun erstmals was ''das können wir uns nicht leisten'' bedeutet, was hart war, gerade weil man mit so vielen neuen Produkten konfrontiert wurde.

Die allgemeine Wendezeit habe ich als zwar aufregend, aber schlussendlich entsprechend negativ in Erinnerung. Alles was ich gerne tat war halt plötzlich weg. Und das was neu und verlockend war, konnte man sich nicht leisten.

Es stand dann bei uns auch die Schulwahl an und als eigentlich sehr guter Schüler kam ich dann auf's Gymnasium. In der Zeit war sehr stark zu merken, dass alles Hals über Kopf und schlecht geplant umgemodelt wurde.

Das Gebäude wurde komplett renoviert in der Zeit. Überall lag Schutt rum, standen Farbeimer etc., man musste aufpassen wo man hintritt und ständig lärmten irgendwelche Presslufthämmer währen des Unterrichts. Alles war irgendwie provisorisch.

Meine neue Englischlehrerin stand mit Wörterbuch vor der Klasse - sie hatte zuvor Russisch unterrichtet und wurde nun mangels Englischlehrern zum Englisch-Unterrichten verdonnert und lernte offenbar selbst noch.

Ich hatte im ersten Jahr dort auch geschlagene 8 verschiedene Mathelehrer, weil es Lehrerstechnisch einfach ein Kommen und Gehen war - entsprechend schlecht war in dem Fach auch der Klassendurchschnitt.

Wie gesagt eine aufregende, wilde Zeit, die aber stark behaftet von vielen negativen Erfahrungen und Einbußen war.

Ja, ich kann mich sehr gut erinnern. Ich saß mit Frau und Kindern vor dem Fernseher und konnte es kaum glauben daß die innerdeutsche Mordgrenze auf war.

Ich erinnere mich das wir ein paar Tage danach zu unserem Aldi einkaufen gingen. Und der Aldi war leergekauft. Kein Kaffe mehr, auch das Lager leer. Kein Schnaps, auch nicht im Lager. Keine Tabakwaren, auch nicht im Lager .

Das habe ich nur dieses einzige Mal erlebt.

Ich erinnere mich das ich mit Familie über die Grenzanlagen in die noch existierende SBZ fuhr und immer das ungute Gefühl hatte die Bolschewiken machen wieder dicht und wir sind gefangen.

Ich erinnere mich in welchem Zustand die Straßen waren und wie verfallen und heruntergekommen die Orte.

Grabow, Ludwigslust, Schwerin habe ich mir angesehen.Verkommen,verrottet, verfallen. Seit '45 unverändert, man sah in Hausfassaden noch die Einschläge der Maschinengewehrgarben von '45.

Ich erinnere mich gut daran wie schnell mit Geld aus dem Westen renoviert wurde, Schwerin wurde in rasantem Tempo wieder eine sehenswerte Stadt. Ich erinnere mich an die Vielen Kollegen aus Mitteldeutschland die in meiner Hamburger Malerfirma durchliefen.

Durchliefen weil sie eine völlig andere Auffassung von ARBEIT hatten als wir Hamburger Maler. Nein, wir sparen keine Farbe und gehen mittags nach Hause. Wir bestellen 50 Eimer zu morgen 7 Uhr. Das wollten sie nicht glauben. Zum Hamburger Akkord auf dem Bau waren sie nicht zu gebrauchen.

Ich erinnere mich sehr gut an diese Zeit.

Woropa 
Fragesteller
 03.10.2023, 09:55

Das kann man diesen Leuten (deinen ehemaligen Kollegen) aber nicht unbedingt vorwerfen. In der DDR war vieles knapp, auch Farbe. In vielen Betrieben mussten die Leute tagelang warten, auf Ersatzteile oder sowas. Da haben die Arbeiter dann eben Karten gespielt, Zeitung gelesen usw. Bezahlt wurden sie aber trotzdem, auch fürs Rumsitzen.

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14Gungnir18  03.10.2023, 10:06
@Woropa

Das machten wir ihnen auch nicht zum Vorwurf, zu gebrauchen im Akkord auf dem Bau waren sie wie Du wohl verstehst dennoch nicht. Sie begriffen damals nicht das man in Hamburg nicht für herumsitzen und Kartenspiel bezahlt wurde. Sondern für ARBEIT. Und das man in Hamburg nicht ohne sich abzumelden die Baustelle verläßt um irgend etwas zu kaufen das vielleicht morgen ausverkauft sei. Und dann noch randalieren weil sie die Zeit da sie unentschuldigt abwesend waren nicht bezahlt bekamen.

Blieben sie auf der Arbeit waren sie extrem langsam. Akkord. ?

Gerne, ist ja Kolonnenakkord. Da haben wir Hamburger dem Chef gesagt das wir keine Solchen mit unserer Arbeit mehr mitziehen werden.

Ob sie nun dafür konnten oder nicht, wir haben geackert und die Herren sich die Klöten geschaukelt, das ist Fakt. Nicht mit uns.

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14Gungnir18  03.10.2023, 10:54
@Woropa

Eine feste Gruppe Handwerker beginnt ein Objekt. Ein Haus hat drölfhundert qm Fläche Rauhfaser tapezieren und dreiundrölf qm Fläche Binderfarbe zu streichen. Dafür gibt es einen Festpreis. Ist die Arbeit fertig wird das Geld ausgezahlt und jeder Handwerker erhält den selben Anteil. In meinen Kolonnen habe ich auch den Hilfsarbeitern den selben Anteil ausgezahlt auch wenn sie nur abdeckten, das Abdeckmaterial entfernten, sauber machten, Farbe und Wasser schleppten so das die Gesellen permanent arbeiten und "Quadratmeter fressen" konnten. Alle zusammen brachten den Akkord und der brachte das Geld. Wenn da einer nicht die Leistung bringt arbeiten die Anderen für SEIN GELD mit. Nicht mit meiner Kolonne !

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Ich stand kurz vor meinem 18.Geburtstag und war im 2. Lehrjahr immer donnerstags und freitags in der Berufsschule. Abends hörte ich Schabowski live im TV.

Am nächsten Morgen redeten wir in der Berufsschule nur über dieses Thema. Die Lehrerin sagte, in anderen Klassen berichteten die Schüler, die direkt an der Strecke zum Grenzübergang wohnten, dass sie die ganze Nacht nicht schlafen konnten. Mein Landkreis lag direkt an der damaligen Grenze. In der Mittagspause sahen wir eine lange Schlange von Leuten, die einen Reisepass beantragten.

Wir fuhren dann am Sonntag rüber zu Papas Cousin in Hessen. Der wohnte gleich in Grenznähe. Direkt hinter der Grenze holten wir das Begrüßungsgeld ab. Verwandte von Papas Cousin hatten einen Tante Emma Laden und öffneten den extra für uns am Sonntag. Ich war beeindruckt von der Fülle in den Regalen und den bunten Farben. Ich habe BRAVOs gekauft, Bananen und ein paar Bonbons.

Sowohl bei der Hin- wie bei der Rückfahrt am gleichen Tag standen wir Kilometer lang im Stau. Ich war ja noch nie im Westen gewesen, und auch die Orte auf der Ostseite im Sprerrgebiet kannte ich nicht.

Noch nicht eine Minute habe ich mir die DDR zurück gewünscht. Ich kenne auch keinen einzigen in meinem Umfeld, der das tut.

Der 9. November war für mich ein Freudentag, unvorstellbar, großartig. Ab Januar 1990 bin ich dann immer wieder „rüber“ in den Osten gefahren, habe mir alles angeguckt und mit den Menschen dort gesprochen. Das war erlebte Geschichte.

Ja.

Ich war an dem Tag in Ostberlin und musste abends vor Mitternacht wieder auschecken. Das ging reibungslos, weil ich der einzige Wessi war. Bei der Ausreise für Ossis gab es eine Riesenschlange. :-)