Kenzeichne den Individualismus als geistige Grundlage der freien marktwirtschaft?

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hier mal ein Einstieg:

Die zweite biologische Lektion der Geschichte lautet, dass Leben Auslese bedeutet. Im Wettstreit um Nahrung, Partner oder Macht sind einige Organismen erfolgreich und andere erfolglos. Im Überlebenskampf sind einige Individuen besser als andere gerüstet, um die zahlreichen Prüfungen zu überstehen. Da die Natur (an dieser Stelle sind damit die absolute Realität und deren Prozesse gemeint) die amerikanische Unabhängigkeitserklärung oder die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte nicht sehr sorgfältig gelesen hat, werden wir alle unfrei und ungleich geboren: Wir sind unserem physischen und psychischen Erbgut sowie den Sitten und Gebräuchen unserer Gruppe unterworfen, wir besitzen ein unterschiedliches Maß an Gesundheit und Stärke, geistiger Kapazität und charakterlichen Eigenschaften. Die Natur liebt die Verschiedenartigkeit als notwendige Voraussetzung für Selektion und Evolution. Eineiige Zwillinge unterscheiden sich auf hundertfache Weise, und keine zwei Erbsen sind gleich.

Ungleichheit ist nicht nur natürlich und angeboren, sie wächst mit der Komplexität der Zivilisation. Erblich bedingte Ungleichheiten führen zu sozialen und künstlich zugeschriebenen Ungleichheiten. Jede Erfindung oder Entdeckung geht auf ein außergewöhnliches Individuum zurück und macht den Starken stärker, den Schwachen relativ schwächer als zuvor. Die wirtschaftliche Entwicklung führt zu Spezialisierung und damit zu unterschiedlichen Fähigkeiten und sorgt so dafür, dass einzelne Personen für ihre Gruppe unterschiedlich wertvoll sind.

Wenn wir unsere Mitmenschen ganz genau kennen würden, könnten wir dreißig Prozent von ihnen auswählen, deren kombinierte Fähigkeiten denen aller anderen entsprechen würden. Das Leben und die Geschichte tun genau das, mit einer überwältigenden Ungerechtigkeit, die an Calvins Gott erinnert. Die Natur lächelt über die einträchtige Koexistenz von Freiheit und Gleichheit in unseren Utopien. Denn

Freiheit und Gleichheit sind eingeschworene und ewige Feinde. Siegt der eine, stirbt der andere. Lässt man Menschen frei, so werden sich deren natürliche Ungleichheiten vervielfachen, wie in England und Amerika im 19. Jahrhundert unter Laissez-faire-Maßgabe. Um eine Zunahme der Ungleichheit einzudämmen, muss die Freiheit geopfert werden, wie in Russland nach 1917. Doch selbst wenn sie eingedämmt wird, wächst die Ungleichheit. Nur derjenige, der in seinen wirtschaftlichen Fähigkeiten unter dem Durchschnitt liegt, wünscht sich Gleichheit, wer sich dagegen seiner Überlegenheit bewusst ist, wünscht sich Freiheit – und letztendlich bekommen die mit überlegenen Fähigkeiten ihren Willen.

Utopien der Gleichheit sind schon aus biologischen Gründen dem Untergang geweiht. Worauf ein freundlich gesonnener Philosoph bestenfalls hoffen kann, ist eine annähernde Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und bei den Bildungschancen. Eine Gesellschaft, in der alle potenziellen Fähigkeiten sich entwickeln und ausgeübt werden können, hat im Wettbewerb der Gruppen einen Überlebensvorteil. Dieser Wettbewerb wird umso schärfer, je weniger Entfernungen eine Rolle spielen, was die Auseinandersetzungen zwischen den Staaten intensiviert. (aus: Will & Ariel Durant: The Lessons of History, 1968)

Oder kurz gesagt: die Erfolgreichen wollen und müssen Individualisten sein.