Kann Fortschritt auch ein Rückschritt sein?

8 Antworten

Der Fortschritt hat in unserer Kultur eine klare positive Konnotation. Er bedeutet in der Regel, dass ein System zuverlässiger arbeitet, energieeffizienter ist, kostengünstiger ist, kleiner, leichter, einfacher ist und trotzdem wirkungsvoller funktioniert.

Dagegen stehen die Rückschritte, die nicht unbedingt negativ sein müssen. Hier wird oft von "Atemholen" gesprochen, von "schöpferischer Pause" von "Möglichkeit zur Selbstbesinnung". Damit soll dann auch kaschiert werden, dass ein fehlender Fortschritt praktisch immer wie ein Rückschritt interpretiert wird. So wird beispielsweise in unserer Gesellschaft das Null-Wachstum schon als bedrohlich - irgendwie als Rückschritt - eingestuft.

Nun konkret zu Deiner Frage: Ein Fortschritt kann durchaus ein Rückschritt sein, wenn man die Bezugsebene für beide Begriffe unterschiedlich wählt. Es kann also als ein Fortschritt gewertet werden, wenn man die ursprünglich als Fortschritt erlebte Komplexität eines Systems vermindert, so dass es weniger störanfällig wird oder bei einem möglichen Ausfall leichter von gering ausgebildeten Technikern repariert werden kann. 

Auch der Slogan "Back to the roots" beinhaltet so eine doppelte Deutung. Hier kann das Ursprüngliche, wenig Fortschrittliche gerade das Gesunde, das Natürliche, das emotional Akzeptierte sein. Wenn man z.B. bei immer komplizierter chemisch aufgearbeiteter Margarine plötzlich feststellt, dass die gute Butter der Oma das beste Produkt darstellt mit den geringsten negativen Auswirkungen auf den Cholesterinspiegel, dann ist der Fortschritt zum guten Produkt durch einen Rückschritt beim Glauben an das Heil der Margarine zustande gekommen.

"Fortschritt" und "Rückschritt" sind Bewertungen. Je allgemeiner die Begriffe gehalten sind, um so schwieriger ist es, ein eindeutiges Urteil zu fällen. Hilfreicher ist es, wenn man präzisiert wie "technischer Fortschritt", "sozialer Rückschritt", "künstlerischer Fortschritt". Dadurch wird die Bewertung eingegrenzt und die Bewertung kann auf sachlichere Argumente bezogen werden, was aber dennoch Bewertungsunterschiede nicht ausschließt. Je genauer die Präzisierung, desto sachlicher wird die Ebene, auf der man über die Bewertungen diskutieren kann, wie z.B. gibt es Fortschritte in der Effizienz des Energieverbrauchs bei Flugzeugen. Da kann man sogar Zahlen heranziehen und vergleichen und so die Bewertung von der rein individuellen Einschätzung auf eine mehr sachliche Ebene heben.

Nein.

Man kann allerdings Dinge für fortschrittlich halten, obwohl sie es nicht sind.
Und es gibt Dinge, die einen technologischen, aber keinen evolutionären Fortschritt bedeuten.

Ich denke, das ist eine Frage des Umgangs mit dem Fortschritt.

Moderne Technologie ermöglicht beispielsweise die Kommunikation über große Distanzen - man kann mit Menschen am anderen Ende der Welt telefonieren, per Textnachricht chatten, oder Video-Konferenzen führen.

Eigentlich ein riesiger Fortschritt, wenn man bedenkt, das einem früher kaum mehr übrig blieb, als einen Brief zu schreiben, oder womöglich sogar selbst zu reisen, um die andere Person kontaktieren zu können.

Wenn diese fortschrittliche Technologie aber dazu führt, dass die Menschen nicht mehr miteinander reden, sondern schweigend nebeneinander sitzend lieber Textnachrichten austauschen, ist das aus meiner Sicht sozial ein Rückschritt.

Der einzelne Mensch und die Gesellschaft müssen mit dem technologischen Fortschritt also Schritt halten können. Sonst sind wir irgendwann technisch auf einem unglaublich hohen Niveau und zwischenmenschlich verarmt.

Enzylexikon  23.12.2016, 21:02

Die "Simple Living" Bewegung kritisiert teilweise auch, dass die versprochenen Vorteile der Technologie sich sogar in ihr Gegenteil verkehren.

So soll moderne Technik beispielsweise Arbeitsabläufe vereinfachen und dadurch dem jeweiligen Anwender die Möglichkeit bieten  "Zeit zu sparen".

Doch tatsächlich gewinnen wir nicht etwa mehr Freizeit - da man mehr Arbeit in kürzerer Zeit bewältigen kann, wird noch mehr Arbeit aufgehalst.

Dadurch haben wir letztlich nichts von der "ersparten Zeit", da sie sofort wieder auf dem Altar der Leistungsgesellschaft geopfert wird.

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Nicht jede Änderung ist ein Fortschritt; nicht jederFortschritt ist eine Verbesserung.