Gibt es einen Unterschied zwischen Mythos und Ätiologie?
Laut Definition sind beides Erzählungen, die probieren, etwas zu erklären (grob gesagt).
1 Antwort
Mythos und Aetiologie bzw. Aitiologie sind nicht dasselbe, aber eine abgrenzende Unterscheidung ist schwierig durchzuführen, vor allem weil es keine allgemein anerkannte genaue Definition des Begriffes »Mythos« gibt.
Aetiologie bzw. Aitiologie ist eine Erklärung von Erscheinungen/Phänomenen durch eine Erzählung über einen Ursprung (griechisch: αἴτιον [aition]) in der Vergangenheit.
Mythos heißt der Wortherkunft (griechisch: μῦθος) nach „Wort“, „Äußerung“, „Rede“, „Erzählung“.
In einem weiten Sinn ist Mythos eine Erzählung, die Bedeutsamkeit für eine Gruppe hat und einen Beitrag zur Erklärung der Welt bietet, gerne bildhaft-anschaulich vorgetragen und von ihrem Gegenstand ergriffen wird, aber nicht wissenschaftlich analysiert und die Überlieferung nicht kritisch überprüft.
In einem engen Sinn erzählt ein Mythos nicht Ereignisse in einer geschichtlichen Zeit nachweisbarer Tatsachen. An der Handlung sind oft Gottheiten beteiligt.
Udo Reinhardt, Der antike Mythos : ein systematisches Handbuch. 1. Auflage. Freiburg im Breisgau ; Berlin ; Wien : Rombach, 2011 (Rombach-Wissenschaften, Reihe Paradeigmata ; Band 14), S. 20:
„Für die gängige kulturwissenschaftliche Wortbedeutung, wie man etwa vom altorientalischem und antikem Mythos spricht, lässt sich immerhin (auch in Abgrenzung zu Sage und Märchen) folgender vorläufiger Definitionsansatz geben: Mythos meint eine einzelne Geschichte bzw. Erzählung oder auch einen größeren Erzählkomplex, in dem es um fiktive, im Blick auf Schauplätze und handelnde Personen meist recht genau fixierte Ereignisse aus einer mythischen Vorzeit geht, zu deren Voraussetzungen durchweg eine Handlungsbeteiligung von göttlichen Wesen gehört.“
Eine Abgrenzung des Begriffes »Mythos« zu dem Begriff »Sage« ist schwierig, weil sich ihre Bedeutung in erheblichem Ausmaß deckt.
Eine Sage kann einen Ausgangspunkt in tatsächlichen Personen, Orten und Ereignissen einer geschichtlichen Zeit haben.
Aetiologie bzw. Aitiologie kann sowohl in einem Mythos als auch in einer Sage vorkommen. Insofern gibt es einen gewissen Unterscheid, weil es sowohl aitiologische Mythen als auch aitiologische Sagen gibt.
Ein weiterer Unterschied zwischen Mythos und Aetiologie bzw. Aitiologie besteht darin, daß der Mythos nicht auf die Funktion beschränkt ist, etwas durch eine Erzählung über einen Ursprung in der Vergangenheit zu erklären, sondern weitere Funktionen erfüllen kann.
Ein Mythos kann Weltdeutung, Orientierung, Ordnen und Strukturieren von Erfahrung, Legitimierung (Rechtfertigung), Sinnstiftung, Verleihen von Bedeutsamkeit, Schaffung von Zugehörigkeit (Identität), Erschaffung von Gefühlen der Übereinstimmung, Integration (Eingliederung in eine größere Gesamtheit), Mobilisierung und Anregung von Handlungen und Verhaltensweisen leisten.
Bei Ursprungsmythen geschieht Aitiologie in Reinform. Bei anderen Arten von Mythen können auch andere Funktionen eine große Rolle spielen.
Erzählungen über große Taten von Göttern/Göttinnen und Helden/Heldinnen können ihre Stellung und Wichtigkeit erklären, aber auch ihre Eigenschaften verdeutlichen.
Mythen können Eschatologie (‘Lehre von den äußersten/letzten Dingen, vom Weltende und vom Anbruch einer neuen Welt’) enthalten, was in erheblichem Ausmaß über eine Erklärung durch Erzählen eines Ursprungs in der Vergangenheit hinausgeht.