Gibt es eine Bedingung für die Gültigkeit der Lotka-Volterra Regel?

2 Antworten

Zyklische Räuber-Beute-Systeme sind intensiv erforscht worden. Als Lehrbuchbeispiel dient oft das gut untersuchte System zwischen dem Kanada-Luchs (Lynx canadensis) und dem Schneeschuhasen (Lepus americanus). Die Hudson's Bay Company besaß lange Zeit in Kanada das Monopol auf Felllieferungen. Sie führte akribisch Buch über die Anzahl der jährlich angelieferten Hasen- und Luchsfelle, so auch in den Jahren 1845 bis 1935. Biologen nutzten diese Daten, um damit Rückschlüsse auf die Populationsentwicklung der Hasen und der Luchse zu ziehen. Es zeigte sich, dass die Anzahl der Felle in einem etwa neun bis zehn Jahre dauernden Rhythmus fluktuierte, wobei die Periode der Luchse leicht zeitverzögert zu jener der Hasen war.

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Mitte der 1920er Jahre beschäftigten sich unabhängig voneinander die beiden Biologen Alfred J. Lotka und Vito Volterra mit Konkurrenz-Beziehungen in Ökosystemen. Ihre Untersuchungen wandten sie in modifizierter Form auf Räuber-Beute-Systeme an und leiteten davon zwei Gleichungen ab, mit denen man die Veränderung der Populationsgrößen sowohl der Räuber als auch der Beutetiere über die Zeit abschätzen kann. Sie sind heute als Lotka-Volterra-Gleichungen bekannt.

Demnach gilt für die Beutepopulation:

dNB/dt = NB(rB – fRR)

und für die Räuberpopulation:

dNR/dt = -NR(sR – rR NB).

Dabei ist NB die Populationsgröße der Beutetiere zu Beginn, rB die Reproduktionsrate der Beutetiere (=Anzahl gezeugter Nachkommen pro Saison), fR ist die Fressrate der Räuber (=Anzahl gefressener Beutetiere pro Saison), N­R die Populationsgröße der Räuber zu Beginn, sR die Sterberate der Räuber und rR die Reproduktionsrate der Räuber.

Von diesen Gleichungen lassen sich die drei Lotka-Volterra-Regeln ableiten:

  1. Periodik der Populationsschwankung: Die Populationsgröße der Räuber und der Beutetiere schwankt periodisch, wobei die Räuberpopulation der Beutepopulation phasenverzögert folgt. Die Periode (=Dauer eines Zyklus) hängt dabei von den Startbedingungen und der Wachstumsrate der Populationen ab.
  2. Konstanz der Mittelwerte: Die Durchschnittsgröße einer Population (ihr Mittelwert) bleibt konstant. Die Größe des Mittelwerts hängt von der Wachstumsrate und der Rückgangsrate der Populationen ab.
  3. Störung der Mittelwerte: Wenn beide Populationen in gleichem Maß proportional zu ihrer Populationsgröße dezimiert werden, vergrößert sich kurzfristig der Mittelwert der Beutepopulation, während der der Räuberpopulation kurzfristig sinkt.

Zusammenfassend ließen sich verallgemeinernd sagen, dass die Größe der Beutetierpopulation von der eigenen Wachstumsrate abhängt (also die Zahl der Geburten minus die Zahl der Todesfälle ohne Räuber) und von der Populationsgröße der Räuber - je zahlreicher die Räuber sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit gefressen zu werden. Umgekehrt hängt die Populationsgröße der Räuber davon ab, wie groß die Populationsdichte der Beutetiere ist - je zahlreicher, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Beutegreifer bei der Nahrungssuche auf ein Beutetier stößt.

Zu Beginn eines solchen Zyklus nimmt daher die Zahl der Beutetiere zunächst exponentiell zu. Zeitverzögert nimmt auch, bedingt durch das gute Nahrungsangebot, die Zahl der Räuber zu. Erreicht diese ihr Maximum, wird der Jagddruck auf die Beutepopulation zu groß als dass sie durch die Reproduktionsrate kompensiert werden könnte und die Populationsgröße sinkt. Wiederum zeitverzögert sinkt dann die Zahl der Räuber, da sie weniger Nahrung finden und deshalb weniger Nachwuchs bekommen. Die niedrige Räuberdichte führt dazu, dass die Beutetiere unter einem verringerten Prädatoinsdruck leiden und die Population wieder ansteigt, es beginnt ein neuer Zyklus. Nach dem Lotka-Volterra-Modell erhalten sich die Zyklen deshalb von selbst allein durch die Populationsgrößen von Räuber und Beute und durch ein Wechselspiel aus bottom-up-Kontrolle (von unten nach oben: die Zahl der Räuber hängt von der Zahl der Beutetiere ab) und top-down-Kontrolle (von oben nach unten: die Zahl der Beutetiere hängt von der Zahl der Raubtiere ab).

In den meisten untersuchten Ökosystemen sind es eher die bottom-up-Effekte, die dominierend sind, d. h. zumeist bestimmt eher die Zahl der Beutetiere die Zahl der Räuber und die Zahl der Beutetiere hängt primär von anderen Faktoren als von der Zahl der Räuber ab. Dennoch wirken in Ökosystemen meist auch die top-down-Effekte, wenn auch nicht so stark.
In den meisten Fällen wirkt die Anwesenheit von Räubern dabei auf die Beutepopulation limitierend. Das heißt, dass die Populationsgröße der Beutetiere niedriger ist als wenn es keine Räuber gäbe. Verschiedene Untersuchungen an Säugern und Vögeln haben ergeben, dass im Durchschnitt bei Anwesenheit die Population der Beutetiere etwa 60 % dessen beträgt, was ohne Räuberanwesenheit maximal möglich wäre. Etwas seltener wirkt sich die Anwesenheit von Räubern auf die Population der Beutetiere überhaupt nicht aus. Die Räuber haben dann einen kompensatorischen Effekt auf die Population der Beutetiere. Das ist z. B. dann der Fall, wenn die Räuber vor allem junge, alte oder kranke Tiere aus der Beutepopulation entfernen, also solche Tiere, die am Reproduktionsgeschehen (noch) nicht (mehr) teilnehmen und zum Wachstum der Population damit gar nichts beitragen. In einigen Fällen kann sich die Anwesenheit der Räuber sogar positiv auf die Population der Beutetiere auswirken - wenn z. B. durch Entfernen kranker Tiere die Ausbreitung von Krankheiten und damit einer viel größeren Ursache für die Sterblichkeit in der Beutepopulation, eingedämmt wird.
In manchen Fällen wirkt sich die Anwesenheit von Räubern aber auch negativ oder degradierend auf die Beutepopulation aus, d. h. die Populationsgröße schrumpft. In jüngster Zeit sind solche Effekte vor allem auf die Einschleppung gebietsfremder Arten (Neozoen) zurückzuführen. So führte beispielsweise die Einführung von Räubern wie Hund, Katze und Marder in Australien zu einem starken Rückgang der dort einheimischen Beuteltierfauna und auf der zu Neuseeland gehörenden Insel Stephens Island führte die Anwesenheit von Hauskatzen dazu, dass dort der einzige bekannte flugunfähige Singvogel der Neuzeit, der Stephenschlüpfer (Traversia lyalli) um 1895 ausgestorben ist. In jüngerer Zeit schaffte es auf einer kleinen Insel vor Kalifornien gar eine einzige Katze, die nur dort heimische (endemische) Unterart der Weißfußmaus (Peromyscus guardia) vollständig auszurotten. Aber auch andere menschliche Eingriffe, die eigentlich gut gemeint sind, können dazu beitragen, dass Räuber die Bestände von Beutetieren dezimieren. Im südafrikanischen Krüger-Nationalpark brach 1987 die Population der ohnehin nur in niedriger Zahl vorkommenden Pferdeantilope (Hippotragus equinus) fast vollständig ein. Was war geschehen? Die Pferdeantilopen besiedelten als an Trockenheit angepasste Tiere die besonders ariden Areale im Nationalpark. Kurz zuvor wurden in jenen Gebieten, um die Tiere zu unterstützen, Wasserlöcher von den Menschen angelegt. Das hatte zur Folge, dass andere Tiere wie Zebras, die auf regelmäßige Wasseraufnahme angewiesen sind, diese ehemals für sie unwirtlichen Gebiete besiedeln konnten. Ihnen folgten auch Räuber wie die Löwen nach. Diese stellten zwar primär den Zebras, ihrer Primärbeute, nach. Doch immer häufiger jagten die Löwen auch die Pferdeantilopen als Sekundärbeute. In Kombination mit der plötzlichen Nahrungskonkurrenz durch die Zebras und dadurch verursachten schlechteren Ernährungszustand konnten die Pferdeantilopen die Prädationsrate (=der prozentuale Anteil der Beutetierpopulation, der durch Räuber entnommen wird) der Löwen nicht mehr durch ihre Reproduktionsrate kompensieren und die Population verringerte sich fast gegen Null.

In aufwändigen Experimenten wurden zyklische Räuber-Beute-Systeme näher untersucht. Dabei zeigte sich, dass die Zyklen selbst in komplexesten Versuchsanordnungen, wo störende Einflüsse weitgehend vermieden werden, nicht aufrecht erhalten werden können. Mit den Lotka-Volterra-Gleichungen allein lassen sich zyklische Systeme daher gar nicht erklären und es müssen noch viele andere Faktoren bei der Schaffung solcher Zyklen beteiligt sein.
In Studien hat sich gezeigt, dass die Prädation durch die Luchse zwar die Amplitude (die maximale Populationsgröße) der Hasenpopulation erklären kann (was man erwarten kann, wenn die Populationsgröße der Räuber auf die Beutetiere limitierend (s. o.) wirkt). Die Periodenlänge (also die Dauer eines einzelnen Zyklus, im Fall der Hasen und Luchse neun Jahre) wird aber offenbar auch durch andere Effekte mitverursacht, die mit dem Lotka-Volterra-Modell selbst nichts zu tun haben.
Es konnte gezeigt werden, dass die Schwankung der Hasenpopulation auf eine ebenfalls schwankende Reproduktionsrate der Hasen sowie eine gleichermaßen schwankende Überlebensrate der Hasen zurückgeführt werden kann. Man vermutete, dass sich neben den Prädatoren noch weitere Faktoren auf diese beiden Raten auswirken könnten, darunter etwa die Nahrungsverfügbarkeit. Während die Überlebensrate der Hasen in kontrollierten Experimenten nicht durch die Nahrungsverfügbarkeit beeinflusst wurde, durch die An- oder Abwesenheit der Räuber jedoch sehr wohl, konnten die Räuber die schwankende Reproduktionsrate allein nicht erklären. Sie geht offenbar zurück, weil einerseits Prädatorendruck Stressreaktionen hervorruft und somit die Fruchtbarkeit beeinflusst. Zum anderen wird sie aber auch stark vom Nahrungsangebot und der Qualität der Nahrung beeinflusst - sind die Hasen in einem schlechten Ernährungszustand, leidet die Reproduktionsrate darunter, ist der Ernährungszustand dagegen gut, können die Hasen sich offenbar besser fortpflanzen. Die Population der Hasen wird also einerseits bottom-up durch die verfügbare Nahrung beeinflusst und andererseits top-down durch Prädatoren, man hat es also nicht nur mit zwei Trophie-Ebenen zu tun (Hasen-Luchse), sondern eigentlich mit drei Ebenen (Pflanzen-Hasen-Luchse). Als wäre das nicht schon kompliziert genug, wirken nicht nur die Luchse als Prädatoren auf die Schneeschuhhasen ein, sondern auch andere Prädatoren wie der Virginia-Uhu (Bubo virginianus) und selbst Nagetiere, die einen beträchtlichen Anteil der Hasenjungen erbeuten können. Die Luchse dagegen scheinen ausschließlich bottom-up reguliert zu werden, also allein von der Populationsgröße der Hasen abhängig zu sein, von denen sie sich zumindest im Winter wohl fast ausschließlich ernähren.
Möglicherweise wirken sich auf das Nahrungsangebot der Hasen schwankende Wetterverhältnisse aus, einerseits über die Quantität der Nahrung (einfach ausgedrückt: scheint häufig die Sonne, produzieren Pflanzen mehr Biomasse) als auch über deren Qualität (Nährstoffgehalt der Pflanzen). Es wird sogar diskutiert, ob Sonnen- oder Mondzyklen solche zyklischen Systeme beeinflussen könnten.

Für weitere Informationen empfehle ich dasumfangreiche Kapitel "Prädation" in Suter (2017), welches ich für diese Antwort als wesentliche Informationsquelle genutzt habe. Es ist zwar für Studierende höherer Semester geschrieben worden und daher für Schüler und interessierte Laien nicht unbedingt immer leicht verständlich, besticht aber durch eine ganze Reihe weiterer anschaulicher Beispiele, eine hervorragende Bebilderung und durch Verweise auf die entsprechenden Original-Veröffentlichungen.

Literatur

Suter, Werner (2017). Ökologie der Wirbeltiere. Vögel und Säugetiere, Haupt Verlag Bern, ISBN 978-3-8252-8675-0.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig
 - (Biologie, Hasen, Ökologie)

1.Ja

2.Nein

http://www.biologie-schule.de/lotka-volterra-regeln.php

Auch die Populatonsschwankungen der Schneeschuhhasen, wie es in Lehrbüchern oft vorkommt, beruhen wahrscheinlich nicht auf der Räuber-Beute-Bezieung.

Es heißt Lotka-Volterra.