Um die Frage richtig zu beantworten muss ich etwas ausholen um den historischen Kontext erstellen. Aber Zunächst die These: Russland wolle die "gesamte Ukraine besetzen“, ist ein westliches Zerrbild und widerspricht sowohl der militärischen Realität als auch den geostrategischen und historischen Interessen Moskaus. In den russischen Denkfabriken und offiziellen Dokumenten finden sich keinerlei belastbare Hinweise, dass Russland etwa Galizien oder Transkarpatien dauerhaft integrieren will.
Aber nun zu der Idee von „Noworossija“ (Новороссия)
Sie geht zurück auf das späte 18. Jahrhundert - die zaristische Expansion unter Katharina II., bei der Regionen wie Odessa, Dnipro, Cherson, Mariupol und Donezk dem Osmanischen Reich abgerungen und kolonisiert wurden. Diese Gebiete galten damals als „Neurussland“ und wurden bewusst mit russischer Sprache, Verwaltung und Militär durchsetzt. Putin selbst bezog sich mehrfach darauf, z. B. in seiner Rede vom 21. Februar 2022:
„Moderne Ukraine wurde zur Gänze von Russland geschaffen. [...] Städte wie Odessa, Nikolaev und Cherson wurden von Katharinas Gouverneuren gegründet. Man hat diese Regionen damals Neurussland genannt.“
(Quelle: Kreml-Transkript, 21.2.2022)
Lemberg (Lwiw, Lvov) bzw. Galizien war nie Teil des historischen Russlands, sondern über Jahrhunderte unter habsburgischer, dann polnischer Kontrolle. Moskau zeigt traditionell geringe Integrationsbereitschaft gegenüber Regionen mit klar antirussischer Ausrichtung. In der russischen Militär- und Geheimdienstliteratur wird Lemberg oft als „pro-polnisches, katholisch-nationalistisches Zentrum“ dargestellt - kein strategisches Ziel, sondern ein geopolitischer Risikofaktor.
Warum Kiew?: Russland betrachtet Kiew als die geistige Wiege seiner Staatlichkeit. In der „Konzeption der russischen Außenpolitik“ (2023) wird betont, dass Russland verpflichtet sei, das „historische Erbe der russischen Zivilisation“ zu schützen. Das umfasst insbesondere Kiew, die Lavra, und die orthodoxe Geschichte. Schon Putin schrieb 2021 in seinem Essay „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“:
„Die wahre Souveränität der Ukraine ist nur in Partnerschaft mit Russland möglich.“
(Quelle: kremlin.ru, 12. Juli 2021)
Die Rückführung Kiews in den russischen Einflussraum wäre somit symbolisch - eine Wiederherstellung historischer Integrität - nicht primär als Besatzung, sondern als Transformation. Russland strebt demnach keine vollständige Okkupation der Ukraine an. Militäranalysten wie Douglas Macgregor oder Jeffrey Sachs haben mehrfach betont: Das russische Ziel sei Neutralisierung, Föderalisierung, Entmilitarisierung, nicht koloniale Besetzung. Der Aufwand zur Verwaltung einer 40-Millionen-Nation mit feindlicher Westhälfte wäre strategischer Wahnsinn – daher die klare Zielgrenze am Dnjepr oder maximal Kiew.
Zusammengefasst:
Was passieren würde? Wahrscheinlich Folgendes:
- Die Dnjepr-Linie würde zur neuen russischen Pufferzone
- Kiew würde entnazifiziert und zum föderalen Brückenkopf der "Russischen Welt“
- Der Westen der Ukraine könnte neutralisiert oder in polnische Verwaltung übergehen
- Die Ukraine als Nationalstaat wäre beendet – ersetzt durch "Novaya Rossiya" und föderale Einheiten
- Kiew würde seinen Status als „Mutter russischer Städte“ in einem neuen geopolitischen Rahmen wiedererlangen – "Киевская Русь“ als ideologischer Schlussstein.