Wie muss ich vorgehen/wie sollte ich vorgehen?

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1 Antwort

Moin,

wie geht man am geschicktesten bei einer Stammbaumanalyse vor?

Eine grundsätzlich gute Strategie ist es, einen Erbgang hypothetisch anzunehmen, um ihn dann anhand des Stammbaums zu widerlegen!

Es ist also gut, wenn man eine aufgestellte Hypothese durch eine Eltern-Kind(er)-Beziehung im Stammbaum widerlegen kann, weil man dann sicher ist, dass die zuvor gemachte Annahme falsch sein muss. Und eine als falsch erkannte Annahme kann man ausschließen. Eine bewährte Methode ist folgende Reihenfolge:

1. Hypothese: Das Merkmal wird Y-chromosomal vererbt.

Widerlegung: Es gibt im Stammbaum betroffene Frauen.

Erklärung:
Wenn ein Merkmal gonosomal auf dem Y-Chromosom vererbt wird, kann eine Frau das Merkmal nicht haben, weil sie die gonosomale Ausstattung XX hat. Da sie kein Y-Chromosom besitzt, kann sie nie betroffen sein. 

2. Hypothese: Das Merkmal wird X-chromosomal vererbt.

Hier muss man zwei Fälle unterscheiden.

2a) Das Merkmal wird X-chromosomal-rezessiv vererbt.

Widerlegung 1: Eine betroffene Mutter hat einen nicht-betroffenen Sohn.

Erklärung:
Wenn eine Frau Merkmalsträgerin ist, das Merkmal aber X-chromosomal-rezessiv vererbt wird, dann muss die Frau jeweils einmal das rezessive Allel auf ihren beiden X-Chromosomen haben. Das bedeutet, dass sie homozygot rezessiv wäre, also nur ein betroffenes X-Chromosom an ihre Kinder weitergeben kann. Ein Sohn bekommt daher von ihr ein betroffenes X-Chromosom, aber vom Vater das irrelevante Y-Chromosom. Somit müssen die Söhne von betroffenen Frauen ebenfalls betroffen sein.

Widerlegung 2: Eine andere Widerlegungsmöglichkeit wäre noch, dass es irgendwo ein betroffenes Elternpaar gibt, dass nicht-betroffene Kinder hat (egal welchen Geschlechts).

Erklärung:
Wenn beide Eltern betroffen sind, das Merkmal aber X-chromosomal-rezessiv vererbt wird, muss die Mutter zwei betroffene X-Chromosomen und der Vater ein betroffenes X-Chromosom haben. Aber dann können sie an ihre Kinder nur betroffene X-Chromosomen weitergeben. Dadurch würden sowohl alle Söhne (betroffenes X-Chromosom von der Mutter und irrelevantes Y-Chromosom vom Vater) als auch alle Töchter (betroffene X-Chromosomen von Mutter und Vater) selbst betroffen sein.

Fazit: Das Merkmal wird nicht X-chromosomal-rezessiv vererbt, wenn es im Stammbaum eine betroffene Frau gibt, die einen nicht-betroffenen Sohn hat oder ein betroffenes Paar irgendein nicht-betroffenes Kind.

2b) Das Merkmal wird X-chromosomal-dominant vererbt.

Widerlegung 1: Ein betroffener Vater hat eine nicht-betroffene Tochter.

Erklärung:
Ein betroffener Vater hat ein dominant betroffenes X-Chromosom. Das gibt er an seine Töchter weiter. Darum müssen alle Töchter dieses Mannes ebenfalls betroffen sein, egal, was die Mutter beisteuert.

Widerlegung 2: Auch hier gibt es noch eine weitere Widerlegung, nämlich wenn ein nicht-betroffenes Paar ein betroffenes Kind hat (egal, welchen Geschlechts).

Erklärung:
Wenn ein Paar nicht betroffen ist, das Merkmal aber X-chromosomal-dominant vererbt wird, kann weder die Mutter noch der Vater ein betroffenes X-Chromosom haben. Sie haben also beide ausschließlich X-Chromosomen mit der rezessiven Allelausprägung. Aber dann können sie beide auch nur nicht-betroffene X-Chromosomen an ihre Kinder weitergeben. Daher können solche Eltern keine betroffenen Kinder haben.

Fazit: Das Merkmal wird nicht X-Chromosomal-dominant vererbt, wenn es im Stammbaum einen betroffenen Vater mit einer nicht-betroffenen Tochter gibt oder wenn ein nicht-betroffenes Paar ein betroffenes Kind hat.

3. Hypothese: Das Merkmal wird autosomal-rezessiv vererbt.

Widerlegung: Ein betroffenes Paar hat ein nicht-betroffenes Kind.

Erklärung: Wenn beide Eltern betroffen sind, müssen sie beide homozygot-rezessiv sein (aa). Dann können sie auch an ihre Kinder nur jeweils ein rezessives Allel a vererben, so dass alle Kinder ebenfalls die Ausstattung aa haben müssen, was sie zu ebenfalls betroffenen Personen machen würde.

Fazit: Das Merkmal wird nicht autosomal-rezessiv vererbt, wenn es im Stammbaum ein betroffenes Paar gibt, das ein nicht-betroffenes Kind hat.

4. Hypothese: Das Merkmal wird autosomal-dominant vererbt.

Widerlegung: Ein nicht-betroffenes Paar hat ein betroffenes Kind.

Erklärung:
Wenn das Merkmal dominant vererbt wird, können nicht-betroffene Personen kein dominantes Allel A haben. Dann können sie aber an ihre Kinder auch nur die nicht-betroffene Allelvariante a weitergeben. Somit müssen alle Kinder ebenfalls nicht betroffen sein, wenn die Eltern nicht betroffen sind.

Fazit: Das Merkmal wird nicht autosomal-dominant vererbt, wenn es im Stammbaum ein nicht-betroffenes Paar gibt, das betroffene Kinder hat.

Wenn man diesen systematischen Analysengang einhält, wird es bei irgendeiner Hypothese im Stammbaum zu keiner Widerlegung kommen. Und die ist dann die richtige.

Eine Einschränkung muss allerdings gemacht werden. Manchmal kann man einen autosomal-dominanten Erbgang nicht von einem X-chromosomal-dominanten Erbgang unterscheiden (das heißt, dass beide Hypothesen widerspruchsfrei funktionieren können). Dann erhält man manchmal durch folgenden Aspekt einen Hinweis auf die Wahrheit:

Wenn im Stammbaum (deutlich) mehr Männer betroffen sind als Frauen, so spricht das für einen X-chromosomal gebundenen dominanten Erbgang.

Wenn die betroffenen Personen dagegen eher auf beide Geschlechter gleichmäßig verteilt sind, spricht das für einen autosomal-dominanten Erbgang.

Ein wirklich sicherer Beweis ist das allerdings mit nur einem Stammbaum nicht, weil Menschen nun einmal in der Regel zu wenig Nachkommen haben, um Zufälle ausschließen zu können.

Was deine Frage nach den Buchstaben angeht...

Der Mensch lebt (genetisch gesehen) in diploider Form. Das heißt, dass (fast) alle seine Zellen einen doppelten (diploiden) Chromosomensatz aufweisen. Ausnahmen sind hier nur die Keimzellen (Eier und Spermien), die nur einen einfachen (haploiden) Chromosomensatz besitzen, und die Roten Blutkörperchen (Erythrocyten), weil sie keinen Zellkern und somit gar keine Chromosomen haben.

Im diploiden Chromosomensatz kommt nun ein Chromosom stets vom Vater, das andere von der Mutter.

Im Chromosomensatz unterscheidest du dann noch einmal zwischen den Geschlechtschromosomen (Gonosomen), also dem X-Chromosom bzw. dem Y-Chromosom, und den anderen Chromosomen (Autosomen).

Ist in der Ausstattung X (vom Vater) und X (von der Mutter), dann handelt es sich (biologisch) um ein weibliches Kind.
Ist die Ausstattung dagegen Y (vom Vater) und X (von der Mutter), dann ist es (biologisch) ein männliches Kind.

Der Mensch hat im Normalfall im diploiden Chromosomensatz insgesamt 46 Chromosomen. Davon sind 44 Autosomen und zwei Gonosomen.

Wenn du nun ein Gen auf einem Chromosom genauer betrachtest, dann kann es in verschiedenen Ausführungsvorschriften (Allelen) daher kommen.

Wenn es nur ein Gen gibt (monohybrider Erbgang), das mit zwei Allelen in einem dominant-rezessiven Verhältnis daherkommt, dann benutzt man Buchstaben, um den Erbgang zu beschreiben.

Dabei bedeutet ein Großbuchstabe, dass das Allel dominant, und ein Kleinbuchstabe, dass das Allel rezessiv ist.

Zum Beispiel:

  • AA (homozygot-dominant)
  • aa (homozygot-rezessiv)
  • Aa (heterozygot)

Bei einem Gonosomal gebundenen Erbgang nutzt man oft auch noch ein Sternchen (*) für betroffene Gonosomen, zum Beispiel

  • X*X* (weiblich homozygot-dominant)
  • X*X (weiblich heterozygot-dominant)
  • x*X (weiblich heterozygot-rezessiv)
  • x*x* (weiblich homozygot-rezessiv)
  • X*Y (männlich X-chromosomal-dominant)
  • x*Y (männlich X-chromosomal-rezessiv)

So weit, so gut...

Viel Erfolg beim Abi...

LG von der Waterkant

aliisa112 
Fragesteller
 02.04.2024, 22:28

Vielen Dank für die so toll ausgeführte Antwort!

ist wirklich echt hilfreich und ich habe jetzt sogar das Gefühl das ganze deutlich besser zu verstehen.

nur nochmal zur Vergewisserung für mich: Merkmalsträger werden dann mit AA/Aa gekennzeichnet?

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DedeM  03.04.2024, 08:20
@aliisa112

Wenn das Merkmal dominant ist, ja. Dann reicht ein dominantes Allel A dafür, dass man das Merkmal hat. Ob man dann homozygot reinerbig (AA) oder heterozygot-mischerbig (Aa) ist, spielt dann für den Umstand, dass man selbst betroffen ist, keine Rolle.

Wird das Merkmal aber rezessiv vererbt, dann müssen Merkmalsträger die genetische Ausstattung aa haben (homozygot-reinerbig).

In diesem Falle wäre die Kombination Aa selbst merkmalsfrei, könnte aber das Merkmal an Nachkommen vererben (wenn man selbst an Kinder ein a weitergibt und vom Partner auch ein a beigesteuert wird)...

Nochmals ein lieber Gruß von der Waterkant

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Schlachsahne06  17.04.2024, 11:55

Wow du bist ein King, schreibe übermorgen auch Bio LK und hatte hierbei noch so meine Schwierigkeiten. Vielen Dank! Nur eine Nachfrage hätte ich noch, wie erkennt man bei einem dominant-autosomalen Erbgang ob betroffene nun AA oder Aa Allele besitzen? VG

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DedeM  17.04.2024, 16:40
@Schlachsahne06

Entweder gar nicht (dann schreibt man (A/?) oder manchmal anhand von Nachkommen, zum Beispiel:

A: Merkmalsträger
a: merkmalsfrei

Betroffene Eltern habe vier Kinder, drei betroffene und ein nicht-betroffenes. Dann weißt du

Eltern beide A/a
die drei betroffenen Kinder alle A/?
das nicht-betroffene Kind a/a

Viel Erfolg bei der Klausur

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