Wer nannte die Novemberrevolution eine „steckengebliebene Revolution“?

1 Antwort

Von Experte Neugier4711 bestätigt

Es hat zeitgenössische Äußerungen mit dem Eindruck, die Revolution sei steckengeblieben, gegeben.

Die Bezeichung »steckengebliebene Revolution« für die Novemberrevolution 1918 ist dann in der Publizistik vorgekommen und später auch in der Geschichtsschreibung verwendet worden.

Alles dazu zu finden, ist kaum möglich (bei historischen Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte kann die Benennung sehr oft entdeckt werden).

Gustav Landauer, Briefe 1899–1919. 1. Auflage. Herausgegeben und kommentiert von Hanna Delf von Wolzogen. Göttingen : V&R unipress, 2023, S. 674 (Brief an Julie Wolfthorn vom 4. Februar 1919):

„Wir würden uns gewiß sehr gut verstehn; eigentlich sind wir nur darin auseinander, daß Du eine Ähnlichkeit mit der französischen Revolution findest. Nein, die ist durchgestoßen; bei uns ist alles stecken geblieben, und darum die Trübseligkeit und düstere Kopfhängerei.“

Es gibt einen Hinweis auf Artikel in der in München erscheinenden Neuen Zeitung (NZ).

Die Regierung Eisner 1918/19. Ministerratsprotokolle und Dokumente. Eingeleitet und bearbeitet von Franz J. Bauer unter Verwendung der Vorarbeiten von Dieter Albrecht. Düsseldorf : Droste-Verlag, 1987 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik ; Band 10), S. XI Anm. 8:

„Das Schlagwort von der „steckengebliebenen Revolution“ findet sich bereits in einem Artikel des Münchener Arbeitersekretärs Otto Thomas in der Neuen Zeitung Anfang März 1919, wo im Hinblick auf die Vereinbarung zwischen MSPD und USPD vom 7. 3.1919 festgestellt wird, die „zweite Revolution“ in Bayern sei „in der parlamentarischen Vertrottelung stecken geblieben“, es werde aber nicht lange dauern, „bis die Zeit der Kompromisse dieser Art überwunden“ sei; vgl. Art. „Stecken geblieben“, NZ Nr. 67 vom 12. 2. 1919.“

Der Publizist und Historiker Max Beer hatte 1919 – 1921 die Schriftleitung der Wochenschrift „Die Glocke“.

M. Beer, Gegenrevolution und Entfaltung der Revolution. Sozialistische Einigkeit. In: Die Glocke, 6. Jahrgang, 1. Band, Nr. 1, 7. April 1920, S. 4:

„Die Koalitionsregierung, die aus den Wahlen des 19. Januar 1919 hervorging, trägt alle Kennzeichen eines nicht ausgefochtenen Klassenkampfes, einer steckengebliebenen sozialen Revolution, - steckengeblieben, da die äußeren Umstände ihr außerordentlich ungünstig waren.“

Willy Hellpach, Sozialpsychologische Analyse des betriebstechnischen Tatbestands „Gruppenfabrikation“. In: Richard Lang und Willy Hellpach, Gruppenfabrikation. Berlin : Verlag von Julius Springer, 1922 (Sozialpsychologische Forschungen des Instituts für Sozialpsychologie an der Technische Hochschule Karlsruhe ; Band1), S. 36:

„Aus dem Munde der Salonumstürzler, der Revolutionsästheten haben wir die bewegliche Klage vernommen: die deutsche Revolution von 1918 sei, abgesehen von ihren formaldemokratischen Abfallprodukten (Republik, Parlamentarismus, Verhältniswahl, Volksentscheid usw.) in einer reinen Lohnangelegenheit stecken geblieben. Die Massenbewegung, welche die Revolution vorbereitet und, als sie entfacht wurde, als Trägerin übernommen hat (immerhin etwas widerwillig übernommen), eben der Sozialismus der deutschen Sozialdemokratie, war ja seit seiner marxistischen Einfärbung selber eine reine Lohnbewegung, wenn auch eine allergrößten Stils.“

Der Publizist Ernst Friedländer war von Oktober 1946 bis Juli 1950 stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitunbg „Die Zeit“:

Ernst Friedländer, 1848 – 1948 : Einheit und Freiheit? In : Die Zeit, 18. März 1948:

„Wir können nicht übermäßig stolz sein auf diese steckengebliebene Revolution. Aber wir haben einigen Grund, sie immer noch mehr zu lieben als so manche Tat der sogenannten ‚großen Männer' unserer Geschichte.“

Hans-Ulrich Ludewig, Arbeiterbewegung und Aufstand : eine Untersuchung zum Verhalten er Arbeiterparteien in den Aufstandsbewegungen der frühen Weimarer Republik 1920 – 1923. Husum : Matthiesen, 1978 (Historische Studien ; Heft 432), S. 169:

„Bereits in den ersten Aufrufen machten sich innerhalb der USPD gewisse Meinungsverschiedenheiten über die Ziele der der angelaufenen Aktion bemerkbar: Bezeichnete der Hagener Aktionsausschuß als Ziel des Kampfes die „Herrschaft der Hand- und Kopfarbeiter im Gegensatz zur Diktatur des Kapitals bis zum Siege des Sozialismus“, so sprach der Elberfelder Aufruf bereits entschiedener von der ,,Diktatur des Proletariats", ebenso der Essener Aufruf der KPD und USPD. Nach einer Woche kristallisierten sich dann im wesentlichen zwei Richtungen heraus, die erheblich voneinander abwichen: während die eine ihr wichtigstes Ziel in der Niederschlagung des Kapp - Putsches sah, ohne sich jedoch auf den Boden der bisherigen Regierung zu stellen, erhoffte sich die andere Richtung in diesen Kämpfen eine Ausgangsbasis für eine „zweite Revolution", für eine Fortsetzung der steckengebliebenen Novemberrevolution.“

Eberhard Kolb, 1918/19: Die steckengebliebene Revolution. In Wendepunkte deutscher Geschichte : 1848 – 1945: Herausgegeben von Carola Stern und Heinrich August Winkler. Originalausgabe. Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1979 (Fischer-Taschenbücher ; 3421), S. 87 – 109

Ulrich Kluge, Die deutsche Revolution 1918, 1919 : Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch. Erstausgabe, 1. Auflage. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1985 (Edition Suhrkamp ; 1262 = N.F., Band 262 : Neue historische Bibliothek), S. 11:

„In der wissenschaftlichen Beurteilung besteht im wesentlichen Übereinstimmung darin, daß die Revolution »steckengeblieben« ist, wenngleich sie die Restauration vorrepublikanischer Verhältnisse auf Dauer verhinderte.

Reinhard Rürup, Die Revolution von 1918-19 in der deutschen Geschichte : Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 4. November 1993. Bonn : Historisches Forschungszentrum, 1993 (Reihe Gesprächskreis Geschichte ; Heft 5), S. 16:

„Man wird deshalb besser von einer unvollendeten, einer steckengebliebenen, einer nur teilweise erfolgreichen Revolution sprechen.“

Neugier4711  21.06.2023, 09:28

Es ist immer wieder fantastisch zu lesen, wie gut du historische Zitate findest, den Kontext erklärst und auch so gut über die Hintergründe Bescheid weist. Vieles kenne ich nicht, trotz großen Interesses und noch viel mehr hatte ich gelesen und wieder vergessen gehabt.

2