Was meint Judith Butler mit "neue Ontologie des Körpers" in Raster des Krieges?


23.06.2021, 17:00

Das Gefährdetsein des Lebens erlegt uns bestimmten Pflichten auf. Wir müssen nach den Bedingungen fragen, die uns ermöglichen, ein Leben oder eine bestimmte Gruppe von Leben als gefährdet wahrzunehmen oder die uns diese Wahrnehmung umgekehrt erschweren oder unmöglich machen. Aus der Wahrnehmung der Gefährdung eines Lebens ergibt sich natürlich nicht automatisch die Entscheidung zu dessen Schutz oder zur Sicherstellung der Bedingungen seines Fortbestandes und Gedeihens. Wie Hegel und Klein auf je eigene Weise betonen, kann die Wahrnehmung des Gefährdetseins, der Schutzlosigkeit bestimmter Gruppen von anderen, gerade zu vermehrter Gewalt und zum Impuls führen, diese anderen zu vernichten. Dennoch möchte ich folgende Auffassung vertreten: Um verstärkt soziale und politische Forderungen nach Schutzrechten und nach dem Recht auf Integrität und Wohlergehen vertreten zu können, benötigen wir zunächst eine neue Ontologie des Körpers, eine Ontologie, die mit einem neuen Verständnis von Gefährdung, Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, wechselseitiger Abhängigkeit, Exponiertsein, körperlicher Integrität, Begehren, Arbeit, Sprache und sozialer Zugehörigkeit einhergeht. Mit dem Begriff »Ontologie« sollen dabei nicht fundamentale Seinsstrukturen jenseits aller sozialen und politischen Organisationsformen beschrieben werden. Ganz im Gegenteil sind diese Seinsstrukturen immer schon in ihre politische Organisation und Deutung eingebunden. Das »Sein des Körpers, auf welches diese Ontologie verweist, ist ein immer schon anderen überantwortetes Sein, es ist immer schon auf Normen und soziale und politische Organisationen verwiesen, die sich ihrerseits geschichtlich entwickelt haben, um die Gefährdung der einen zu maximieren und die der anderen zu minimieren. Man kann nicht zunächst die Ontologie des Körpers definieren, um sich anschließend mit den sozialen Bedeutungen zu beschäftigen, die der Körper in der Folge annimmt. Körper sein heißt vielmeht, gesellschaftlichen Gestaltungskräften und Formierungen ausgesetzt sein, weshalb die Ontologie des Körpers immer schon soziale Ontologie ist. Anders ausgedrückt: Der Körper ist gesellschaftlich und politisch geprägten Kräften ebenso wie den Forderungen des sozialen Zusammenlebens- wie der Sprache, der Arbeit und dem Begehren- ausgesetzt, die Bestand und Gedeihen des Körpers erst ermöglichen. Die mehr oder minder existenzielle Konzeption von »Gefährdung« ist daher mit einem spezifisch politischen Begriff der »Prekarität« verknüpft. Und von der differenzierten Zuweisung dieser Prekarität hat meines Erachtens sowohl die Neukonzeption der Ontologie des Körpers als auch die einer progressiven oder linken Politik auszugehen, die beide auch künftig die Kategorien der Identität zu überschreiten und zu durchkreuzen haben.

1 Antwort

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Hallo Skoolstuff,

ich darf die folgend Passage nochmals zitieren, denn sie erscheint mir signifikation in Bezug auf die Frage zur Ontologie des Körpers.

Um verstärkt soziale und politische Forderungen nach Schutzrechten und nach dem Recht auf Integrität und Wohlergehen vertreten zu können, benötigen wir zunächst eine neue Ontologie des Körpers, eine Ontologie, die mit einem neuen Verständnis von Gefährdung, Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, wechselseitiger Abhängigkeit, Exponiertsein, körperlicher Integrität, Begehren, Arbeit, Sprache und sozialer Zugehörigkeit einhergeht.
Mit dem Begriff »Ontologie« sollen dabei nicht fundamentale Seinsstrukturen jenseits aller sozialen und politischen Organisationsformen beschrieben werden. Ganz im Gegenteil sind diese Seinsstrukturen immer schon in ihre politische Organisation und Deutung eingebunden. Das »Sein des Körpers, auf welches diese Ontologie verweist, ist ein immer schon anderen überantwortetes Sein, es ist immer schon auf Normen und soziale und politische Organisationen verwiesen, die sich ihrerseits geschichtlich entwickelt haben, um die Gefährdung der einen zu maximieren und die der anderen zu minimieren.

Hier scheint zunächst ein Sein des Körper im Mittelpunkt allen Rechts nach Integrität und Wohergehen zu stehen.

Die Ontologie des Körpers scheint die Autorin aber äußen Rahmenbedingungen zu unterwerfen - ggf. um eine Zweckmäßigkeit zu erfüllen. Wäre das Sein des eigenen Körpers anderen Menschen überantwortet - und den Eindruck dürfen wir in unserer Gesellschaft sehr abstrakt gesehen gewinnen - wäre es aber, so meine Auffassung, nicht mehr unser Sein, sondern ein Sein, dass uns aufgeprägt wird.

Mein Eindruck: die Verfasserin sieht in diesen Abhängigkeit aus der eigenen Umgebung heraus ein eigenes Sein. Das erscheint so, als wäre die Umgebung einfach gegeben - doch sie ist in meinen Augen man-made. Damit kann sie ein Produkt des Seins anderer Menschen, die ihres durchsetzen und anden aufprägen können, sein. Somit hätten diese Menschen ein Sein, dass sich nicht von der Umgebung abhängig macht, sondern die Umgebung von sich abhängig macht.

Erlaube mir ein paar eigene Worte.

Ich persönlich mag daran Zweifel hegen, denn es scheint sich so kein eindeutiges Sein darstellen zu lassen. Der Ausweg wäre ein absolutes Sein, was sich im ersten Absatz, den ich zitiert habe, andeutet - aber wohl in der Gesellschaft kaum realisiert ist.

Betrachten wir das angeführte Beispiel von Wahrnehmung von Leiden. Wir mögen abhängig von unserem von unseren Interessen ein Leiden von anderen Menschen mehr oder weniger wahrnehmen und beachten. Damit diskriminieren wir Menschen - und führen dazu explizite Prozesse. Betrachten wir aber eine Ontologie - also ein Sein - so impliziert das Prozesslosigkeit in abstrakter erster Linie (das lässt sich auch so darstellen).

Im Leben wären wir dann nicht - es hätte nur den Anschein - sondern wür würden Agieren oder Reagieren. Man kann aber darstellen, dass ein Sein auf ein allen gegenüber gleichermaßen Agieren wie Wahrnehmen führt - und somit unabhängig von irgendeiner Umgebung, die ggf. Forderungen stellt würde.

Mit vielen lieben Grüßen
EarthCitizen

Woher ich das weiß:Hobby

EarthCitizen20  28.06.2021, 07:20

Hallo Skoolstuff,

hab vielen herzlichen Dank für denStern. Ich freue mich sehr, wenn ich Dir habe helfen oder zumindest einen Ansatz vermitteln konnte.

Mit vielen lieben Grüßen

EarthCitizen

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