Was meinen die Philosophen, wenn sie von Vollkommenheit reden?

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Was die Philosophen genau mit Vollkommenheit meinen, ist davon abhängig, welche philosophische Ausrichtung sie haben.

Einen allgemeinen Überblick geben geschichtlich ausgerichtete Philosophielexika, z. B.:

Thomas Sören Hoffman, Vollkommenheit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 11: U – V. Basel : Schwabe, 2001, Spalte 1115 – 1132

Vollkommenheit (griechisch τελειότης, lateinisch perfectio, englisch perfection, französisch perfection, italienisch perferzione) ist allgemein eine Übereinstimmung von Sein und Sollen. In der philosophischen Tradition deckt Vollkommenheit ontologische, axiologische, ethische und auch ästhetische Bedeutungsfelder ab (also Sein, Wert, Gutes und Schönes).

a) Eher qualitativ-material ist Vollkommenheit innere Vollendetheit.

b) Eher quantitativ-formal ist Vollkommenheit äußere Vollständigkeit.

Bei Platon liegt die Vollkommenheit bei der Idee des Guten der Grund der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist eine Ordnung, in der alles Seiende durch die Teilhabe an der Idee des Guten Einheit und Bestimmtheit und damit Existenz und Wesensfülle erhält.

Die menschliche Seele folgt nach Platon einem Zug vom Werdenden zum Seienden (ψυχῆς ὁλκὸν ἀπὸ τοῦ γιγνομένου ἐπὶ τὸ ὄν Politeia 521 d) und erfährt damit eine Angleichung an Gott soweit möglich (ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν Theaitetos 176 b).

Die Idee des Guten (das Gute an sich) ist ein Strebensziel (Politeia 532 b532 b).

Bei Aristoteles ist ἀρετή (Tugend/Tüchtigkeit/Vortrefflichkeit) eine Vollendung (τελείωσις) im Sinn eines realen Vermögens zur Erreichung von Zwecken naturgemäßer Bestheit.

Das Vollkommene ist:

a) vollständig

b) in seiner Gattung unübertroffen

c) etwas, das sein (gutes) Ziel erreicht hat und somit abgeschlossen ist

Das höchste Ziel, das dieser Vollkommenheit entsprich,  ist das Glück.

Nach der Lehre der Stoiker durchwaltet der Logos die Welt (den Kosmos), er ist eine in allen Dingen wirkende Kraft. Alles folgt seiner Ordnung. In der Ethik gilt es, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben (ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν). Dies bedeutet zugleich, in Übereinstimmung mit der Vernunft und der Tugend zu leben. Der stoische Weise ist insofern ein vollkommener Mensch, als er alle Tugenden innehat, das passende Verhalten/das Geziemende/Pflichtgemäße (καθῆκον) aus Einsicht/richtiger Überlegung  tut.

Platon vertritt eine Lehre, nach der die Ideen wirklich Seiendes sind. Sie gehören zu einer Welt der Ideen, einem Bereich für das Denken einsehbarer Sachen Die Ideen bilden einen nur geistig erfassbaren Bereich, an dessen Spitze die Idee des Guten steht. Nach einer Aussage bei Platon ist die Idee des Guten (ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα Politeia 517 c) sogar kein Sein, sondern liegt jenseits des Seins und übertrifft es an Alter und Kraft (οὐκ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαθοῦ, ἀλλ’ ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος Politeia 509 b).

Die Einzeldinge haben zu den Ideen eine Verbindung, die in bildlich-übertragener Ausdrucksweise ein Urbild-Abbild-Verhältnis genannt werden kann (ein Muster/Vorbild [παράδειγμα] und ein Abbild [εἰκών; εἴδωλον]). Platon schreibt von einer Teilhabe (μέθεξις) der Einzeldinge an den Ideen. Im Einzelding gibt es eine Anwesenheit/Gegenwärtigkeit (παρουσία) der Idee. Zwischen Idee und ihr zugehörigem Einzelding gibt es eine Gemeinschaft (κοινωνία).

Bei Platon steht die Idee des Guten am höchsten, als Ursache von Sein, Wahrheit, Schönheit und Erkenntnis, und sie ist das übergreifende Eine.

Platon hat nach antiken Zeugnissen eine Prinzipienlehre (griechisch ἀρχή = Prinzip) vertreten, zu der es in den schriftlichen Dialogen nur einige andeutende Hinweise gibt. Platon hat sie mündlich vorgetragen („ungeschriebene Lehre“) und mit anderen erörtert. Als Prinzip der Einheit verleiht das Eine (ἕν) als Idee des Guten allem Grenze und Bestimmung und damit Existenz und Erkennbarkeit. Zu diesem ersten Prinzip tritt – ihm auf gewisse Weise untergeordnet – als ein zweites Prinzip die unbegrenzte/unbestimmte Zweiheit (ἀόριστος δυάς), von der die Vielheit abgeleitet ist. Dieses Materialprinzip für Ideen und Sinnendinge wird auch als Groß – Kleines (μέγα καὶ μικρόν) bezeichnet.

Vgl. dazu Michael Erler, Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 2/2). Basel ; Stuttgart : Schwabe, 2006, S. 392 – 429

Albrecht  13.05.2011, 04:07

Bei Aristoteles ist das Streben Verwirklichung eines der Möglichkeit nach Seienden. Diese Verwirklichung ist, insofern sie ein Ziel erreicht, eine Vollendetheit, eine Entelechie (ἐντελέχεια). Beim Handelns ist diese Entelechie Glückseligkeit (Nikomachische Ethik 1 und 10)  bei Naturprozessen ist das Worumwillen, auf das alles ausgerichtet ist, das unbewegt Bewegende (Metaphysik Λ 7, 1072 a – b).

Glück(seligkeit) ist das höchste und letzte Ziel (Endziel) menschlichen Handelns. Alle streben nach Glück.

Glückseligkeit (εὐδαιμονία), das menschliche Gut, beruht nach Aristoteles, auf einer der Vortrefflichkeit gemäßen Tätigkeit der Seele bzw. (wenn es mehrere Vortrefflichkeiten gibt) der Tätigkeit, die der besten und vollkommensten Vortrefflichkeit entspricht.

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Albrecht  13.05.2011, 04:08

Hellmut Flashar, Aristoteles. In: Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 3). Herausgegeben von Hellmut Flashar. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 2004, S. S. 341:

„Mit dem Begriffspaar ‘Möglichkeit’ (δύναμις : im voraristotelischen Sprachgebrauch: Kraft, Fähigkeit) und ‘Wirklichkeit’ (ἐνέργεια; der Begriff ist vor Aristoteles nicht belegt) hat Aristoteles ein weiteres Interpretationsmittel gewonnen, die Einheit des Seienden in seiner Mannigfaltigkeit aspektartig darzutun (vor allem Met. Θ). Dabei ist Möglichkeit nicht logische Modalität […], sondern als das der Möglichkeit nach Seiende (δυνάμει ὄν: Met Δ 7, 1017 b 1; Θ 10, 1051 b 1; Λ 2, 1069 b 16) eine ontologische Kategorie […]. Denn es ist als das Noch-nicht-Seiende auf die Verwirklichung im Prozess der Bewegung bzw. Veränderung angelegt und gelangt (falls keine Störfaktoren eintreten) in das der Wirklichkeit nach Seiende (ἐνεργείᾳ ὄν). Aristoteles interpretiert jedes Werden (γένεσις) als eine Bewegung von dem der Möglichkeit nach Seienden zu dem der Wirklichkeit nach Seienden (De gen. et corr. I 5, 520 a 13). Die Zielgerichtetheit des Werdensprozesses kommt darin zum Ausdruck, dass für Wirklichkeit auch Vollendetheit (ἐντελέχεια, Entelechie) eintreten kann. Wirklichkeit ist dabei sowohl Verwirklichung als auch Verwirklichtheit eines vorher Möglichen.“

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Albrecht  13.05.2011, 04:09

Vgl. auch:

Michael-Thomas Liske, entelecheia. In: Wörterbuch der antiken Philosophie. Herausgegeben von Christoph Horn und Christof Rapp. Originalausgabe. München : Beck, 2002 (Beck'sche Reihe ; 1483), S. 135

Vgl. auch allgemein zur ἀρετή (Tugend/Tüchtigkeit/Vortrefflichkeit) ἀρετή (Tugend/Tüchtigkeit/Vortrefflichkeit):

Christoph Horn/Christof Rapp, arete. In: Wörterbuch der antiken Philosophie. Herausgegeben von Christoph Horn und Christof Rapp. Originalausgabe. München : Beck, 2002 (Beck'sche Reihe ; 1483), S. 59 - 65

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Albrecht  13.05.2011, 04:10

Die Ethik der Stoiker richtet sich darauf, in Übereinstimmung mit der Natur (dem Wesen der Wirklichkeit) zu leben. Eine Grundbestrebung in der Welt ist die Oikeiosis (οἰκείωσις; „Einhausung“; „Aneignung“; „Zueignung“). Menschen sind mit Vernunft ausgestattete Lebewesen. Ziel der Stoiker ist Apatheia (ἀπάθεια). Dies bedeutet wörtlich einen Zustand der Erleidenslosigkeit (und ist nicht einfach mit „Apathie" als Mattheit, Stumpfsinn und Gleichgültigkeit gleichzusetzen). Dieser wird durch Leidenschaftslosigkeit erreicht, einer Befreiung von Verirrungen aufgrund von Affekten. Diese Gleichgültigkeit bezieht sich auf nicht Verfügbares.

In der stoischen Ethik ist das einzige Gute die Tugend. Allein die innere Einstellung ist zu beeinflussen, bei der die Vernunft von außen an sie herantretenden Vorstellungen, die ein Streben in Bezug auf eine Verwirklichung auslösen können, ihre bewußte Zustimmung erteilt oder nicht. Tugend besteht dabei darin, nicht irrigen Meinungen zu verfallen, und so den richtigen Weg zum Glück zu beschreiten. Nach Zenons ist Glückseligkeit ein gut verlaufendes (schön fließendes) Leben (εὐδαιµονία δ' ἐστὶν εὔροια βίου).

Vgl. zu den Stoikern:

Peter Steinmetz, Die Stoa. In: Die hellenistische Philosophie (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 4/2). Zweiter Halbband. Herausgegeben von Hellmut Flashar. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1994, S. 491 - 716

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Hängt von den Strömungen ab. integritas =  Makellosigkeit; perfectio = Vollendung; Entelechie = Ganzheit; geschlossen und geordnet, alle denkmöglichen Bestimmungen eines Gegenstandes in Harmonie; bar jeglicher Ergänzungsmöglichkeit; das Nichts.

Sie meinten damit einen Zustand, der Zufriedenheit ermöglicht aus einem Zustand heraus, der unvollkommen war. Allerdings wußten sie damals noch nicht, daß die Evolution alles an positive und negative Wahrnehmungen gekoppelt hat. Hätten sie das gewußt, hätten sie sicherliche keine Rätsel produziert.

Hier gibt's ein bißchen was darüber: http://www.gutefrage.net/frage/was-ist-der-sinn-des-lebens-d#answer24522942

Vollkommenheit ist ein Zustand/Umstand, der nicht (mehr) verbessert werden kann, damit also der beste Zustand/Umstand, der möglich/zu erreichen ist.