Warum stottern Stotterer beim sprechen aber nicht beim Singen?

6 Antworten

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Dass Stotterer beim Singen nicht stottern liegt an der Atemstütze. Das Zwerchfell wird beim Singen in Tiefstellung gehalten, das verstärkt die Spannung an den Stimmlippen und im Mundraum. Einen ähnlichen Effekt haben Stotterer wenn sie "gestützt" Sprechen. Mehr Infos unter Sprechtechnische Stottertherapie - Ariane Willikonsky: http://www.foninstitut.de/logopaedie-stottern-poltern.html

brusco53 
Fragesteller
 19.02.2011, 14:01

Dankeschön!!

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soweit ich weiß, liegt es an der Entspannung des Zwerchfels und der anderen Atmung beim Singen... außerdem verstärkt unsicherheit und Angst vor Lachern das Stottern, welche wohl beim Singen etwas in den Hintergrund gerät

Es ist nur eine Vermutung, aber ich könnte mir denken, weil die Worte beim Singen langsamer gesprochen werden als in der Unterhaltung.

Andreas Starke  07.02.2016, 16:48

Eine interessante Vermutung. Da könnte man sogar eine Berechnung anstellen. Die normale Sprechgeschwindigkeit amerikanischer Sprecher beträgt 180 bis 210 Silben pro Sekunde. Da müsste man vergleichsweise schon 3 Silben pro Sekunde singen, um 180 zu erreichen. Wenn ich ein normal-schnelles Lied singe wie "Ein Vogel wollte Hochzeit machen" schätze ich singe ich 2 Silben pro Sekunde, das wären 120 pro Minute und somit deutlich langsamer.

Die Frage wäre dann, ob ein Stotterer auch dann flüssig bleibt, wenn er schnell (d.h. ein schnelles Lied) singt. Das glaube ich nämlich. Ich habe eine früher schwer stotternde Opersängerin in Therapie gehabt, die könnte ich fragen, ob sie früher bei schnellen Arien gestottert hat. Sie war übrigens beim Singen nicht durchgehend flüssig, z.B. beim Rezitativ nicht. Das ist eine Art Sprechgesang mit langen Passagen auf einem Ton und freiem Rythmus (z.B. eine ganze Wortfolge auf einen langen Ton des Orchesters).

Eines bleibt allerdings richtig: Stotterer stottern weniger und leichter, wenn sie langsamer sprechen, viele gar nicht, wenn sie sehr langsam sprechen. Das ist nur sehr schwer durchzuhalten und klappt unter Stress auch nicht so richtig.

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Singen ist eine ganz andere Leistung als Sprechen. Damit ist klar, dass die Steuerung durch das Nervensystem ganz anders funktioniert. Die drei wichtigsten Unterschiede sind:

  • Beim Singen ist Melodie und Text bekannt, "spontanes Singen" ist eine Kunst, die man richtig trainieren muss. Der Film "Die Regenschirme von Cherbourg" (Musik: Michel Legrand) ist deswegen so charmant, weil alle Text gesungen werden, mit Orchesterbegleitung, aber keine Verse, sondern Alltagssprache. Das ist, natürlich, kein spontanes Singen, sondern sind gelernte Texte in gelernten Tonfolgen (Melodien).
  • Beim Singen will man nicht kommunizieren. Wenn ich singe "Alle Vögel sind schon da", möchte ich dem Zuhörer nicht mitteilen, dass "schon alle Vögel da sind", sondern ihm eine Freunde machen oder ihm auf die Nerven gehen, je nach dem.
  • Singen ist rhythmisch, sprechen nicht. Wenn Sprechen rhythmisch wäre, könnte man dazu tanzen, wenn sich zwei Leute unterhalten.

Die Sache mit der Atmung klingt verführerisch. Tatsächlich funktioniert die Atmung beim Sprechen ganz anders als die Ruheatmung und auch die Singatmung funktioniert ganz anders als die Ruheatmung. Was vor allem anders ist, ist dass die Einatmung beim Singen am Ende von einer oder zwei Textzeilen (z.B. 4 oder 8 Takte) erfolgt, also regelmäßig geschieht, während beim spontanen Sprechen alle natürlichen Pausen verwendet werden, um den Luftvorrat zu ergänzen (sog. reflektorische Nachatmung). Beim geplanten Sprechen (Nachrichten im Fernsehen, Rede vor einem Publikum) wird der Sprecher inhaltliche Zäsuren, häufig bei Satzzeichen, aber nicht bei allen und nicht nur bei Satzzeichen, nutzen, um Luft zu holen. Professionelle Sänger, insbesondere Opernsänger, die ohne Mikrofon singen, holen relativ viel Luft beim Einatmen, weil sie daran interessiert sind, lange zusammenhängende Tonfolgen zu produzieren. Ansonsten ist tiefes Luftholen unnütz, nicht in Ruhe und nicht beim Sprechen und auch nicht beim nicht-professionellen Singen. Ein paar Mal am Tag kann man das tun. Das verbessert die Stimmung, notfalls holt sich der Körper diese Anregung von selbst, z.B. durch Gähnen.

Zum Sprechen wird der linke Frontallappen des Gehirns benutzt, zum Singen der Rechte. Und dort liegt die Lösung des Problems. Wieso und warum das nun allerdings so ist, wissen selbst die Hirnforscher heutzutage noch nicht.