Soll Ensemble Schostakovitsch boykottieren?
Hallo, ich bin in einem Hobby-Ensemble und wir üben gerade für ein bevorstehendes Konzert. Ursprünglich sollte der Walzer Nr.2 von Dmitri Schostakowitsch gespielt werden und ich liebe das Stück wirklich, ein Familienmitglied hat auch einen Hintergrund mit dem Stück. Nun hat unsere Lehrerin beschlossen, das Stück nicht zu spielen, weil sie wegen des Krieges in der Ukraine emotional nicht damit umgehen kann, überlässt aber dem Rest der Gruppe die Entscheidung, ob wir es spielen wollen oder nicht.
Ich mag das Stück sehr gerne und wollte mich ein bisschen anstrengen, um meinen Standpunkt zu verteidigen, es trotzdem zu spielen. Ich habe einige Dokumentarfilme über Schostakowitsch gesehen und weiß, dass er unter starkem politischem Druck von Stalin stand und nach Stalins Tod vom sowjetischen Regime weiter unterdrückt wurde. Zeitweise wurde er als Staatsfeind betrachtet, weil sich seine Frustration über das kommunistische Regime durch seine Werke sickerte.
In Anbetracht dessen würde ich sagen, dass das Spielen von Schostakowitsch keine Ignoranz gegenüber dem Krieg und all seinen Tragödien ist, die die Russen jetzt verursacht haben, denn der Mann selbst hat die sowjetische Politik nie unterstützt. Ich verstehe, dass es umstritten ist, Musik von modernen russischen Künstlern zu spielen, aber der Walzer stammt aus dem Jahr 1938 und ist in gewisser Weise künstlerisch vor modernen Ereignissen geschützt, würde ich sagen.
Dennoch bin ich kein Experte, und deshalb teile ich meine Gedanken auf dieser Plattform.
Sind meine Argumente fehlerhaft? Übersehe ich entscheidende Zusammenhänge? Boykottieren eure Ensembles / Bands auch russische Künstler und welche?
2 Antworten
chostakowitsch war sicherlich keiner der mit Putin befreundet hätte sein können. Man sollte selbstverständlich weiter russische Komponisten und die russische Kultur zeigen und fördern. Das sind nämlich die Bänder, die viel stärker sind als ein irrer Despot, der sowieso bald stirbt.
Hallo,
das ist eine Situation, in der sich natürlich das 'Bauchgefühl' meldet. Es ist jedoch kein kluger Berater.
Schostakowitsch hatte das unsägliche Schicksal, der bedeutendste Komponist der Sowjet-Diktatur unter Stalin zu sein. Da er nicht den Vorgaben der Partei gemäß komponierte, wurde er überwacht und durfte lange Zeit nur veröffentlichen, was die Zensurbehörde genehmigte, wenn sie es denn genehmigte, und musste zeitweilig sogar um sein Leben fürchten. Dass er im Ausland geschätzt und gespielt wurde, machte ihn für die Partei noch problematischer.
Wenn Du Schostakowitsch schätzt, solltest Du 'Der Lärm der Zeit' von Julian Barnes lesen - ein hervorragend recherchiertes und geschriebenes Buch über Schostakowitsch und das Leben zu dieser Zeit in der Sowjetunion. Das geht über das hinaus, was die filmischen Dokumentation aus dem Jahr 2006 zeigt, auf die Du Dich offenbar in Deiner Frage beziehst.
Natürlich ist ein Vergleich mit der heutigen Zeit nur bedingt möglich. Aber wenn man eine inhaltliche Verbindung zwischen der Lebenssituation Schostakowitschs und dem jetzigen Krieg herstellen möchte, dann kann man festhstellen: Schostakowitsch war ein Opfer Stalins und seines Machtapparates, wie jetzt die Ukraine ein Opfer Putins und seiner Armee ist.
Somit legt der Ukraine-Krieg eher nahe, das Werk aufzuführen und auf die Umstände zu verweisen, als davon Abstand zu nehmen.
Kurz: Deine Argumentation ist richtig und überzeugend.
LG
Arlecchino