Kritisch gegenüber der Aufklärung?

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Das Wort »kritisch« kann verschiedene Bedeutungen haben.

Es stammt von dem griechischen Adjektiv κριτικός, das „zum Entscheiden gehörig“, „zum Urteilen gehörig“, „kritisch“, „urteilsfähig“ bedeutet. Dieses gehört zum Verb κρίνειν, das unter anderem „scheiden“, „sondern“ , trennen“, „unterscheiden“, „auswählen“, „(be)urteilen“, „entscheiden“, „richten“ bedeutet.

»kritisch« kann „prüfend“, „urteilend“ oder „entscheidend“ bedeuten.

Die Bedeutung „prüfend“, „urteilend“ kann als genaues, sorgfältiges Prüfen und Urteilen, das sowohl gute als auch schlechte Einschätzungen enthalten kann, gemeint sein oder als tadelnd, Vorbehalte äußernd, ablehnend.

Mit „eher kritisch“ ist in der Aufgabe anscheinend die zuletzt angegebene Bedeutung gemeint, also tadelnd, Vorbehalte äußernd, ablehnend.

Dies muss nicht eine völlige Ablehnung und eine scharfe Stellungnahme gegen die Aufklärung sein, sondern kann auch in gewissen Vorbehalten oder Geltungsansprüche der Aufklärung einschränkenden Standpunkten bestehen.

Eindeutig als „eher kritisch“ gemeint ist nur Zitat 4

Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Brief 8 (1795):

„Nicht genug also, dass alle Aufklärung des Verstandes nur insofern Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muss geöffnet werden.“

Es gibt eine Einschränkung gegenüber der Aufklärung des Verstandes. Gefühl und Charakterbildung sind betont.

Friedrich Schiller lehnt sich in seiner Philosophie oft an Immanuel Kant an, er sucht aber auch nach einer umfassenden Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft. Dazu gehört Bildung eines Charakters einer schönen Seele.

Nicht wirklich ablehnend, aber einen Standpunkt mit ein wenig Vorbehalten oder Einschränkungen beschreibend ist Zitat 5

Rousseau nahm Partei für die Religion und Spiritualität und für die Bedeutung des Gefühlslebens. Die Vernunft, meinte er, müsse sich gegen Gott und die Unsterblichkeit wenden, aber das Gefühl spreche dafür.“

Neil Postman, Die zweite Aufklärung : vom 18. ins 21. Jahrhundert (Building a Bridge to the 18th Century: How the Past Can Improve Our Future; 1999), Kapitel 2 („Rousseau placed himself on the side of religion and spirituality and of the significance of the life of feeling. Reason, he thought, argues against God and immortality, but feeling is in favor of both.“)

Dies ist eine beschreibende Darstellung.

Jean-Jacques Rousseau wird üblicherweise als Philosoph der Aufklärung verstanden, allerdings stehen seine Standpunkte teilweise zu denen der Aufklärung in Spannung. Nach seiner Auffassung ist ein echtes Gefühl/eine echte Empfindung (französich: sentiment) mehr als der Verstand (französisch: raison) und die Stimme der Natur spricht daraus.

Die völlige Richtigkeit der Rousseau-Deutung ist anfechtbar. Rousseau hat zwar eine Stellung gegen Materialismus und Atheismus. Rousseau will Gefühl/Empfindung und Vernunft/Verstand aber letztlich nicht gegeneinander ausspielen, sondern Übereinstimmung zwischen ihnen.

Die übrigen Zitate sind nicht ablehnend, es wird höchstens eine zur Aufklärung passende und mit ihr vereinbare Skepsis geäußert.

Zitat 1

Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784): „sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch Aufklärung.“

Dies ist eine berühmte Schrift eines Philosophen der Aufklärung.

Horst Möller, Vernunft und Kritik : deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Erstausgabe. 1. Auflage. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1986 (Edition Suhrkamp ; 1269), S.12:

„Dieser Imperativ der Aufklärung gilt für alle Lebensbereiche, gilt für Religion und Kirche, Staat und Gesellschaft, Philosophie und Wissenschaft, Geschichte und Gegenwart.“

Dies ist eine beschreibende Darstellung.

Zitat 2

„Gesetze im weitesten Sinne des Wortes sind Beziehungen, die sich aus der Natur der Dinge mit Notwendigkeit ergeben.“

Montesquieu, De l’esprit des loix (Vom Geist der Gesetze, 1748), Buch 1, Kapitel 1: „Les lois dans la signification la plus étendue, ſont les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses;“

Montesquieu ist ein Schriftsteller und politischer Philosoph der Aufklärung.

Zitat 3

Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch K, 1793-1796. [K 303]:

„Zweifle an allem wenigstens einmal, und wäre es auch der Satz: zweimal 2 ist 4.“

Lichtenberg ist ein Aufklärer und hat in seinen Notizbüchern Aphorismen aufgeschrieben.

Eine gewisse Skepsis (wenigstens einmal an etwas zweifeln) ist mit Aufklärung gut vereinbar.

Zitat 6

Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1794):

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Dies ist eine berühmte Schrift eines Philosophen der Aufklärung.

Zitat 7

Horst Möller, Vernunft und Kritik : deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Erstausgabe. 1. Auflage. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1986 (Edition Suhrkamp ; 1269), S.15:

„Die den Menschen erkennbare Wahrheit ist allemal relativ, niemals absolut - so lautete die Botschaft der Ringparabel aus Lessings und der deutschen Aufklärung reifstem Werk Nathan der Weise. Und nur konsequent war es, von dieser Position aus, dass die Toleranz -und das bedeutete zunächst die Toleranz unter den verschiedenen Religionen, den christlichen und außerchristkichen - zu einem Hauptziel der Aufklärung wurde.“

Dies ist eine beschreibende Darstellung.

Gotthold Ephraim Lessing ist ein Schriftsteller der Aufklärung.

Zitat 8

Friedrich Schiller, Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1784):

„Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet, und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten, und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl.“

Eine moralische Wirkung von Theaterstücken steht nicht in einem Gegensatz zur Aufklärung.

Zitat 9

„Nach dem Gesagten könnte man noch zu den Vorteilen des Gesellschaftszustandes die sittliche Freiheit hinzufügen, die allein den Menschen erst in Wahrheit zum Herrn über sich selbst macht: denn der Trieb der bloßen Begierde ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat, ist Freiheit.“

Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes (Du contrat social ou Principes du droit politique; 1762), Buch 1, Kapitel 8 („On pourroit sur ce qui précede ajouter à l’acquis de l’état civil la liberté morale, qui seule rend l’homme vraiment maitre de lui ; car l’impulsion du seul appetit est esclavage, & l’obéissance à la loi qu’on s’est prescrite est liberté. Mais je n’en ai déjà que trop dit sur cet article, & le sens philosophique du mot liberté n’est pas ici de mon sujet.“)

Es gibt in diesem Textabschnitt keinen Gegensatz zur Aufklärung. Als Ziel wird Freiheit angegeben. Die Theorie eines Gesellschaftsvertrages ist ein in der Aufklärung erörterter Gedanke.

Zitat 10

Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch L, 1796-1799. [L 472]:

„Man spricht viel von Aufklärung, und wünscht mehr Licht. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben, oder die, die sie haben, vorsätzlich verschileßen?“

Lichtenberg ist ein Aufklärer und hat in seinen Notizbüchern Aphorismen aufgeschrieben.

Mangelhafte Intelligenz oder fehlende Bereitschaft zu ihrer Anwendung verhindern Erkenntnisse. Dies stimmt mit Auffassungen der Aufklärung überein

Zitat 11

Peter-André Alt, Aufklärung. 3., aktualisierte Auflage. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2007 (Lehrbuch Germanistik), S. 11 – 12:

„Aufklärung versteht sich als Erziehung des Menschen, als Anleitung zum Gebrauch seiner Verstandeskräfte, Beitrag zur vernünftigen (das heist hier auch: tugendhaften) Lebensführung, als Programm der Befreiung von Aberglaube und Unfreiheit im Interesse der Ausbildung intellektueller Fertigkeiten vor dem Hintergrund des epochentypischen Anspruchs auf die diesseitige Verwirklichung der persönlichen Glücksmöglichkeiten des Einzelnen.“

Dies ist eine beschreibende Darstellung.

Zitat 12

„Es gibt also eine ursprüngliche Vernunft, und Gesetze sind die Beziehungen, die zwischen ihr und den verschiedenen Wesen bestehen, sowie die Beziehungen dieser Wesen untereinander.“

Montesquieu, De l’esprit des loix (Vom Geist der Gesetze, 1748), Buch 1, Kapitel 1: „Il y a donc une raison primitive ; & les lois ſont les rapports qui se trouvent entr’elle & les différens êtres, & les rapports de ces divers êtres entr’eux.“

Montesquieu ist ein Schriftsteller und politischer Philosoph der Aufklärung.

Zitat 13

Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1794):

„Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“

Dies ist eine berühmte Schrift eines Philosophen der Aufklärung.

Zitat 14

Peter-André Alt, Aufklärung. 3., aktualisierte Auflage. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2007 (Lehrbuch Germanistik), S. 12:

„Aufklärung bedeutet stets auch Säkularisierung und schließt eine fortschreitende Verweltlichung im Zeichen der Verdrängung kirchlicher Autoritäten ein.“

Dies ist eine beschreibende Darstellung.


Lara006207 
Fragesteller
 15.01.2023, 20:28

Ich weiß ehrlich nicht, wie ich Ihnen danken soll!! ❤️❤️Sie haben mir echt geholfen. Ich arbeite seit gestern an der Aufgabe und mir ist erst jetzt der Sinn der Aufgabe und die Bedeutung mancher Zitate aufgefallen. Danke Vielmals!!!!! 🙏🙏

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