Kritik an Weimarer Klassik?

3 Antworten

Die Weimarer Klassik umfasst die Werke Goethes und Schillers seit ca. 1776 (Beginn von Goethes dichterischem Wirken in Weimar; Schiller wurde durch das Kant-Studium seit ca. 1792 zum "Weimarer Klassiker", seit etwa 1794 waren beide miteinander befreundet und arbeiteten zusammen). Die Weimarer Klassik endete 1805 mit Schillers Tod.

Wie die Aufklärung ging die (Weimarer) Klassik von der Erziehbarkeit des Menschen zum Guten aus. Ihr Ziel war die Humanität, die wahre Menschlichkeit (das Schöne, Gute, Wahre; s. Goethes Gedicht "Das Göttliche" oder das Drama "Iphigenie auf Tauris"), bei Schiller vor allem die individuelle Freiheit (s. z.B. das Drama "Don Carlos").

Während bei Goethe die oben genannten Ideale mitunter verwirklicht werden, scheitern bei Schiller so gut wie alle „Ideenträger“ an der harten, unmenschlichen Wirklichkeit. Sie bringen aber durch ihren Untergang diese Ideale zum Leuchten.

Im Goethe-Drama „Iphigenie auf Tauris“ prallen die Ideale der Priesterin Iphigenie, Wahrheit und Güte, und die dumpfe Gefühlswelt des Herrschers Thoas aufeinander: die erste fordert Wahrheit und humanes Handeln, Thoas will unter allen Umständen sein Barbarengesetz zur Anwendung bringen: Opferung derjenigen, die in Taurien gelandet sind. Am Ende kann Iphigenie den Thoas zur Einsicht bringen, jedoch nicht, indem er eine Neigung zum Humanen verspürt (weil er ja in Iphigenie verliebt ist), sondern indem Iphigenie ihn von der Notwendigkeit des humanen Handelns überzeugt. Hier also werden die Ideale der Weimarer Klassik tatsächlich in der Realität verwirklicht. Goethe hatte später deswegen ein mulmiges Gefühl bekommen. Er sagte, seine Iphigenie sei doch „verteufelt“ human.

In Schillers Drama „Don Carlos“, das an der Grenze zwischen Sturm und Drang und Klassik steht, ist die Königin (Elisabeth) eine typische Figur der Klassik. Das geht aus ihrem Gespräch mit Don Carlos hervor, in dem sie Sittlichkeit und Humanität anstatt der Verwirklichung seines Glücksverlangens fordert (Don Carlos ist in die Frau seines Vaters verliebt, er begehrt sie). Sittlichkeit und Humanität spielen also auch in diesem Drama als Ideale der Klassik eine Rolle. Elisabeth ist fast schon eine Figur wie Goethes „Iphigenie“.

Dagegen tritt der Marquis Posa, der Freund des Don Carlos, noch als anderer „Ideenträger“ auf, als Vertreter des Freiheitsgedankens. Er möchte gegen alle Widerstände, die ihm der Despotismus des Königs und das Blutregime Herzog Albas in Flandern entgegensetzen, die Freiheit im Staate verwirklichen. Er scheitert aber, wie fast alle „Ideenhelden“ bei Schiller (Ausnahme: "Die Bürgschaft": "Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte" - sprach der Tyrann zu den beiden Freunden).

Dass die Ideen der Weimarer Klassik zu verwirklichen seien, hat Goethe in dem Gedicht „Das Göttliche“ noch für möglich gehalten („Edel sei der Mensch…"), in seinem Nachruf auf Schillers Tod („Epilog zu Schillers Glocke“) aber praktisch ausgeschlossen:

„Denn er war unser! Mag das stolze Wort

Den lauten Schmerz gewaltig übertönen!

Er mochte sich bei uns im sichern Port

Nach wildem Sturm zum Dauernden gewöhnen.

Indessen schritt sein Geist gewaltig fort

Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen,

Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine,

Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.

 

Das heißt also: das „Gemeine“ ist so stark, dass das „Wahre, Gute, Schöne“ keine Chance hat, es ist nur im „Ewigen“ realisierbar.

Die Kritik ergibt sich also aus Goethes Formulierung „Die Iphigenie ist doch verteufelt human“ und aus dem zitierten Nachruf.

In Schillers Werken geht es eigentlich "realistisch" zu: Die Vertreter des Gedankens der Weimarer Klassik scheitern so gut wie alle, das Anständige, Gute, Humane geht unter, zerschellt an der Wirklichkeit, an der Herrschaft des „Gemeinen“. Schiller hat das in seinem Gedicht "Die Ideale" klar beschrieben: dass die Ideale keine Chance haben gegen die harte Realität des Lebens und der Welt.

Woher ich das weiß:Recherche
Arlecchino  08.04.2022, 17:41
Die Vertreter des Gedankens der Weimarer Klassik scheitern so gut wie alle, das Anständige, Gute, Humane geht unter, zerschellt an der Wirklichkeit, an der Herrschaft des „Gemeinen“.

Ist es nicht so, dass das Anständige, Gute, Humane seit Menschengedenken immer wieder scheitert, und dies nur von der Weimarer Klassik abgebildet wird?

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Haldor  08.04.2022, 18:24
@Arlecchino

In Schillers Dramen: ja; in Goethes "Iphigenie" siegt das Humane über das "Gemeine".

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Arlecchino  08.04.2022, 18:40
@Haldor

Danke für die Rückmeldung.

hinter meinem Kommentar stand die Überlegung, ob die in Deiner Antwort formulierte mögliche Kritik an der Weimarer Klassik - so weit sie denn zutrifft - nicht eher ein Hinweis auf die Unzulänglichkeit der Menschen allgemein ist als eine Schwäche der Literatur.

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Haldor  08.04.2022, 22:01
@Arlecchino

„…nicht eher ein Hinweis auf die Unzulänglichkeit der Menschen…“ Unbedingt! Wo hat es mal Menschen gegeben, denen es gelang, die humanitären Ideen mit der nötigen Macht zu versehen, sodass sie Wirksamkeit entfalteten? Mit fallen nur wenige Persönlichkeiten ein: Gandhi, Luther, Jesus, Buddha. Jesus musste seine Aufrufe zum christlich-humanen Handeln mit dem Leben bezahlen, aber seine Anhänger haben aus den christlichen Ideen eine Religion gemacht, die ungeheure Wirksamkeit auf der Welt entfaltet hat (wenn auch die christlichen Ideale zeitweise von innen heraus zersetzt worden sind, aber immer wieder ihre Kraft zurückgewannen). Ähnlich war es bei Buddha; seine Anhänger und  Nachfolger haben ebenfalls eine mächtige Religion geschaffen.

Auch Gandhi ist schließlich von irgendeinem Anhänger der "gemeinen Mächte" ermordet worden.

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Haldor  09.04.2022, 15:25
@Arlecchino

Ja, z.B. in dem Schillergedicht "Die Ideale" (bezogen auf deine Bemerkung, dass das Gute, Wahre von jeher an der Wirklichkeit scheitert).

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Das Klima in Weimar war halt nicht so doll wie das in der Toskana. Aber das wird wohl Schiller gewesen sein, der als Idealist eben lieber leiden statt gut leben wollte. Schade für die anderen.

Leider fand sie nicht in Paris statt.