Kann mir jemand bei dem Gedicht „verloren“ von Joseph von Eichendorff helfen?

2 Antworten

Das Gedicht ist eine Vorform des Lorelei-Motivs, das ja nicht est bei Heine, sondern schon bei Brentano (Lore Lay) und eben Eichendorff (Es ist schon spät, es wird schon kalt...) zu finden ist.

Kern des Gedichtes scheint mir Fei und Riff zu sein, die jeweils in Vers 2 vorkommen und einen Chiasmus, also eine geschlossene rhetorische Figur bilden:

Fei - Riff - Riff - Fei

Sie sind aufeinander bezogen, gehören zusammen (die Fee und der Ort, wo sie sich befindet und singt).

Das Lorelei-Motiv ist unverkennbar: diese "Fei" kämmt ihr Haar und singt dabei, ferner gehen Schiff/Schifflein und Schiffer (= Paronomase) unter: der Grund wird ausgespart, aber es wird doch nahegelegt, dass die Fei dafür verantwortlich ist, es ist aber eine nicht menschliche Figur, denn sie veschwindet offenbar spurlos, aber das Riff ebenfalls, das verleiht dem Ganzen die ihm gebührende fantastische Dimension.

Metrum: 4-hebige Trochäen

Wann die Morgenwinde wehn: Alliteration

Stell dir die Fragen persönlicher: Was verstehst du und warum verstehst du es so, wie du es verstehst?

Wer sich mit Interpretationen schwer tut, kann nur verlieren, wenn er sich fragt, wie ein Text zu verstehen sei. Ich habe mich unbewusst auch immer nach der "richtigen" Interpretation gefragt, was die Lehrkraft hören will - und hatte dann schon keine Lust und auch kein Selbstvertrauen mehr, das Gedicht zu interpretieren, weil ich einfach nur in diesem Meer aus Erwartungen und lyrischer Sprache geschwommen bin, ohne mich irgendwo festhalten zu können.

Für mich ist es bei der Vermittlung von interpretatorischen Kompetenzen deshalb essentiell, das eigene Verständnis zu fokussieren und es am Text zu legen. Wie wirkt das Gedicht - und zwar im doppelten Sinn: wie wirkt das Gedicht auf dich und wie macht es das?

Versuch, dich in das Gedicht hineinfallen zu lassen, in ihm zu versinken, Bilder hochkommen zu lassen. Was verstehst du, was siehst du?

Es ist nur ein kurzer Text, trotzdem wirst du ein Szenario entwerfen können, wenn du von "Nacht: Schiff und Schiffer; Meerfei singt von untergegangenen Inseln am Riff, Morgen: kein Riff und keine Meerfei, versunkenes Schiff und ertrunkener Schiffer" liest: Wenn Schiffer in der Nacht fahren, werden sie von dem Gesang und vom Anblick der Meerfei so betört, dass ihre Schiffe sinken. 

Wie wirkt das Gedicht? Schau jetzt, wie sprachliche Mittel das Gedicht "zeichnen". Wie unterstützt was diese Bilder und Gefühle?

Achwiegutdass hat den Trochäus angesprochen. Wenn du den Trochäus nun beim lauten Lesen ein bisschen hervorhebst, hörst du die Wellen, ihr Auf und Ab. Und wenn du das Gedicht ein paar Mal vorliest, dabei den Trochäus deutlicher betonst und schon fast leierst, kannst du auch die Trance nachempfinden. Der Schritt von der Analyse ("da ist ein Trochäus") zur Interpretation besteht darin, die sprachlichen Mittel und die Form auf das eigene Verständnis zu beziehen, um es zu belegen.

Wenn du das Gedicht (dir) mehrfach vorliest, wirst du bemerken, dass die ersten beiden Zeilen einer Strophe am Ende anders sind als die letzten beiden. Jede Strophe hat erst zwei männliche Kadenzen (letzte Silbe der Zeile betont) und dann zwei weibliche Kadenzen (letzte Silbe unbetont).

In der ersten Strophe kommt in Zeilen 3 und 4 ein Zeilensprung dazu: Zeile 4 gehört als Relativsatz zwingend zu Zeile 3, hier kann man keine Lesepause machen. Die erste Strophe wird dadurch eindringlicher, bedrohlicher - es ist wie in einem Strudel, aus dem man nicht mehr herauskommt.

In der zweiten Strophe gibt es auch erst männliche, dann weibliche Kadenzen. Auch die zweite Strophe zwei hat einen Zeilensprung, nämlich von Zeile 1 auf 2. treffen jedoch ein Konditionalnebensatz und sein Hauptsatz aufeinander, die nicht so stark aneinander gebunden sind wie Haupt- und Relativsatz aus Strophe 1. Außerdem lassen die männlichen Kadenzen eine kurze Pause machen. In Zeile 3 und 4 gibt es in Strophe 2 keinen Zeilensprung; es sind zwei Hauptsätze, die Struktur der Sätze ist gleich: und - Subjekt - ist - Partizip; wobei die beiden Subjekte und die beiden Partizipien jeweils dieselbe Struktur haben (Subjekte: einsilbiger direkter Artikel, zweisilbiges Nomen, beide beginnend mit "Schiff-"; Partizipien: dreisilbig, sie klingen fast komplett gleich). Das Gedicht zeichnet in Strophe 2 ganz sanften Wind (Alliteration "w") und Wasser mit ganz gleichmäßigen Wellen, als sei nie irgendwas gewesen.

Tag - Nacht ist ein inhaltlicher Gegensatz. Auf der einen Seite (in der ersten Strophe) steht die Nacht mit Schiff und Schiffer, der Meerfei, die sich kämmt und von untergegangenen Inseln singt. Auf der anderen Seite (in der zweiten Strophe) ist der Tag - ohne Riff, ohne Meerfei, mit versunkenem Schiff und ertrunkenem Schiffer. Die Aufteilung der Strophen unterstützt den Aufbau des Gegensatzes.

Schiff+Schiffer und Fei+Riff (auch wieder Realität vs. Vorstellung/Wahn) sind ein weiteres "Gegensatzpaar", das gleich in den ersten beiden Zeilen genannt wird, aber noch nicht in Verbindung ist: Zwei Hauptsätze stehen nebeneinander, getrennt von der Leerstelle/Silbenpause der männlichen Kadenz. Mit dem Singen beginnt die "Kontaktaufnahme", gleichzeitig entsteht durch die weiblichen Kadenzen und den Zeilensprung dieser Sog.

Die Zeile zwischen den Strophen ist leer, doch der lesende Kopf füllt sie: Das Schiff sinkt samt Schiffer. Und dann: neue Strophe - neuer Tag.

Das ist eine relativ ausführliche Starthilfe. Sie hilft dir aber nur, wenn du dich selbst damit auseinandersetzt, es nachzuvollziehen versuchst und es als Beispiel für andere Gedichtinterpretationen nimmst. Es geht um die Art und Weise, wie man mit Gedichten umgehen kann, nicht um dieses spezielle Gedicht, denn "Verloren" wird wahrscheinlich nicht das letzte Gedicht sein, mit dem du arbeiten musst/kannst/darfst.

Ich würde jetzt an deiner Stelle mit diesem Gedicht weiterüben: das Reimschema ist noch offen; der Titel ist noch offen. Was haben die untergegangenen Inseln da zu suchen, warum kämmt sich die Meerfei? Da findest du selbst in diesem Gedicht noch mehr. Du kannst auch eine "Liste" durchgehen und gezielt nach sprachlichen Mitteln suchen, um dann zu gucken, wie sie dein Verständnis belegen. Bei einer Gedichtinterpretation geht es darum, das, was man versteht, am Gedicht zu belegen. Deswegen gibt es eigentlich auch keine falsche Interpretation - wenn eine Interpretation "falsch" ist, dann kann man sie am Text nicht belegen. Dann ist es eine Meinung, die nichts mehr mit der eigentlichen Grundlage zu tun hat.

Wenn du ein Gedicht interpretierst, lies es - mehrfach, und wenn es möglich ist, lies es vor. Blende alles andere um dich herum aus und lass dich auf das Gedicht ein. Frag dich, wie du es verstehst, wie es auf dich wirkt, und mit welchen Mitteln dieses Verständnis und diese Wirkung erzeugt wird bzw. belegt werden kann.

Und natürlich kann man auf das eigene Verständnis noch einen großen theoretischen Überbau setzen mit intertextuellen Bezügen und Motiven - das große Ganze.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Es gibt keinen Anspruch auf Dank. Ich freu mich nur darüber.
LottaKirsch  08.04.2020, 09:29

"Für mich ist es bei der Vermittlung von interpretatorischen Kompetenzen deshalb essentiell, das eigene Verständnis zu fokussieren und es am Text zu *be*legen" sollte das heißen...

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