John Locke und sein Naturzustand / Naturgesetz

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Ein Naturgesetz ist in der Naturrechtslehre (auf die John Locke zurückgreift, obwohl er in seinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von dieser Tradition abweicht) eine in der Welt als geschaffener natürlicher Ordnung enthaltene Norm (Vorschrift). Das Naturgesetz (natürliches Gesetz, Gesetz der Natur) bei John Locke ist ein natürlich (mit Hilfe der Sinne und des Verstandes) erkennbares und den Gegebenheiten der menschlichen Natur entsprechendes Gesetz.

Das Naturgesetz ist göttlicher Wille (eine Anordnung des göttlichen Willens, welche die natürliche Vernunft erkennen kann und der anzeigt, was mit der vernünftigen Natur des Menschen vereinbar oder nicht vereinbar ist) und sowohl Grundlage der Sittlichkeit als auch des Rechts. Das Naturgesetz ist allgemeingültig und für alle verbindlich. Es gilt von Natur aus, unabhängig von menschlicher Gesetzgebung (gesetztes –„positives“ Recht). Sein Inhalt ist die Pflicht zur Selbsterhaltung, die im Weltplan verankert ist. Aus der Selbsterhaltung werden weitere Rechte wie Freiheit, Leben, Gesundheit und Besitz abgeleitet, an denen Personen kein Schaden zugefügt werden darf. Zum Naturgesetz gehören auch Regeln für ein angemessenes Strafmaß bei Rechtsbrüchen (die Grundsätze des Schadenersatzes und der Abschreckung sind als einzige zur Strafe berechtigende Gründe anzuwenden).

John Locke., Two Treatises of Government („Zwei Abhandlungen über die Regierung“), The Second Treatise of Government . An Essay Concerning the True Origin, Extent, and End of Civil Government („Die zweite Abhandlung über die Regierung. Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung.“), Chapter (Kapitel) 2: Of the State of Nature (“Der Naturzustand”), 6 – 7 enthält wesentliche Aussagen:

“6. […]. The state of nature has a law of nature to govern it, which obliges every one: and reason, which is that law, teaches all mankind, who will but consult it, that being all equal and independent, no one ought to harm another in his life, health, liberty, or possessions: for men being all the workmanship of one omnipotent, and infinitely wise maker; all the servants of one sovereign master, sent into the world by his order, and about his business; they are his property, whose workmanship they are, made to last during his, not one another's pleasure: and being furnished with like faculties, sharing all in one community of nature, there cannot be supposed any such subordination among us, that may authorize us to destroy one another, as if we were made for one another's uses, as the inferior ranks of creatures are for our's. Every one, as he is bound to preserve himself, and not to quit his station wilfully, so by the like reason, when his own preservation comes not in competition, ought he, as much as he can, to preserve the rest of mankind, and may not, unless it be to do justice on an offender, take away, or impair the life, or what tends to the preservation of the life, the liberty, health, limb, or goods of another. 7. And that all men may be restrained from invading others rights, and from doing hurt to one another, and the law of nature be observed, which willeth the peace and preservation of all mankind, the execution of the law of nature is, in that state, put into every man's hands, whereby every one has a right to punish the transgressors of that law to such a degree, as may hinder its violation: for the law of nature would, as all other laws that concern men in this world 'be in vain, if there were no body that in the state of nature had a power to execute that law, and thereby preserve the innocent and restrain offenders. And if any one in the state of nature may punish another for any evil he has done, every one may do so: for in that state of perfect equality, where naturally there is no superiority or jurisdiction of one over another, what any may do in prosecution of that law, every one must needs have a right to do.”

Albrecht  05.11.2010, 02:46

John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung. Übersetzt von Hans Jörn Hoffmann. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Euchner. [13. Auflage] . Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2008 ( Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 213), S. 202 – 203:

„6. […]. Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll. Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Weltgesandt wurden. Sie sind sein Eigentum, da sie sein Werk sind, und er hat sie geschaffen, so lange zu bestehen, wie es ihm, nicht aber wie es ihnen untereinander gefällt. Und da sie alle mit den gleichen Fähigkeiten versehen wurden und alle zur Gemeinschaft der Natur gehören, so kann unter uns keine Rangordnung angenommen werden, die uns dazu ermächtigt, einander zu vernichten, als wären wir einzig zum Nutzen des anderen geschaffen, so wie die untergeordneten Lebewesen zu unserem Nutzen geschaffen sind. Wie ein jeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich zu verlassen, so sollte er aus dem gleichen Grunde, und wenn seine eigene Selbsterhaltung nicht auf dem Spiel steht, nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten. Er sollte nicht das Leben eines anderen oder, was zur Erhaltung des Lebens dient: Freiheit, Gesundheit, Glieder oder Güter wegnehmen oder verringern, - es sei denn, daß an einem Verbrecher Gerechtigkeit geübt werden soll.

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Albrecht  05.11.2010, 02:51

7) Damit nun alle Menschen davon abgehalten werden, die Rechte andere zu beeinträchtigen und sich einander zu benachteiligen, und damit das Gesetz der Natur, das den Frieden und die Erhaltung der ganzen Menschheit verlangt, beobachtet werde, so ist in jenem Zustand die Vollstreckung des natürlichen Gesetzes in jedermanns Hände gelegt. Somit ist ein jeder berechtigt, die Übertreter dieses Gesetzes in einem Maße zu bestrafen, wie es notwendig ist, um eine erneute Verletzung zu verhindern. Denn das Gesetz der Natur wäre, wie alle anderen Gesetze, die den Menschen auf dieser Welt betreffen, nichtig, wenn im Naturzustand niemand die Macht hätte, dieses Gesetz zu vollstrecken, um somit den Unschuldigen zu schützen und den Übertreter in Schranken zu halten. Wenn in diesem Naturzustand jeder einzelne den anderen für ein begangenes Unrecht bestrafen darf, so dürfen es auch alle. Denn in diesem Zustand vollkommener Gleichheit, wo es von Natur aus weder eine Überlegenheit noch eine Rechtsprechung des einen über den anderen gibt, müssen notwendigerweise alle dazu berechtigt sein, was irgendeinem in der Verfolgung dieses Gesetzes erlaubt ist.“

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Albrecht  05.11.2010, 02:53

Reinhard Brandt, John Locke. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Band 3: England. Zweiter Teilband. Völlig neubearbeite Ausgabe. Herausgegeben von Jean-Pierre Schobinger. Basel : Schwabe, 1988 (Grundriß der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg ; Abteilung 4, Band 3.2), S. 681 (zu „Essays on the law of nature“ – „De lege naturae“ - , wobei Locke keine systematische Darstellung vollendet und die 8 Traktate nicht veröffentlich hat; sie wurden erst 1954 veröffentlicht):

„Das Material, aus dem die Vernunft die Naturgesetze als göttlichen Willen erkennen kann, ist die sinnliche Erfahrung; aus ihr vermag unser diskursiver Verstand mit Gewissheit zu folgern, dass wir dem Willen des Schöpfers verpflichtet sind und worin seine Gesetze bestehen: Gott als Schöpfer der Menschen hat ein unbedingtes Verfügungsrecht über seine Kreatur, sein Wille ist ihr Gesetz. Als weiser Schöpfer hat er seinen Kreaturen jedoch einen Zweck gegeben: im Fall des Menschen ist die Aufgabe die Verehrung Gottes, die Betrachtung der Welt und das gute Zusammenleben in der menschlichen Gesellschaft. Diese Zielsetzung ist insofern ein Naturgesetz, als es natürlich erkennbar ist und den Gegebenheiten der menschlichen Natur entspricht. Die im absoluten Willen Gottes begründete »obligatio moralis« erfährt ihre inhaltliche Konkretisierung als in der göttlichen Weisheit begründete »obligatio naturalis«. Die Motivation, den göttlichen Gesetzen zu folgen, kann so mit hedonistisch begründet werden […], Die Vernunft ist daher imstande, die Naturgesetze in ihrem Inhalt und in ihrem verpflichtenden Charakter mit der gleichen demonstrativen Gewissheit zu erkennen wie die Sätze der Geometrie [….].“

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Albrecht  05.11.2010, 02:54

S. 683 (zu „Two Treatises of Government“): „Das Naturgesetz ist das Gesetz der Erhaltung der Freiheit eines jeden in der Verfügung über sein Leben und seine Güter; der einzelne Mensch ist dementsprechend nicht nur zu passivem Gehorsam der Freiheitsgewährung gegenüber anderen verpflichtet, sondern er soll aktiv die Erhaltung der Freiheit, des Lebens und der äusseren Güter fördern. Um dieser Pflicht zu genügen, hat jeder das Recht, über beliebige Gesetzesverletzungen anderer zu richten und den Richterspruch zu vollstrecken, wobei Urteil und Sühnung einer Rechtsverletzung jedem Menschen im gleichen Mass zukommt, während der Anspruch auf Wiedergutmachung nur vom Geschädigten erhoben werden kann.“

S. 686: „Die rechtmäßige Entstehung der politischen Gesellschaft vollzieht sich, indem die mündigen Personen ihre naturrechtliche Handlungs- und Strafkompetenz teilweise bzw. völlig denjenigen übergeben, die von der neuen Assoziation, der demokratischen Urversammlung, mit der Legislative und Exekutive betraut sind. Die „höchste Gewalt“ („supreme power“) ist die gesetzgebende Institution. In ihr vollzieht sich mit bestimmten Zeitabständen die Urteilsbildung aller, sei es unmittelbar, sei es mittelbar durch Repräsentanten aufgrund von Mehrheitsbeschlüssen.“

S. 687: „Die Herkunft aus der Rechtskompetenz der einzelnen verbürgt die Bindung der Legislative an die eigentlichen, d. h. göttlichen Gesetze; die Naturgesetze sind daher verfassungsrechtlich gleichsam die erste Gewalt;“

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Albrecht  05.11.2010, 02:55

Walter Euchner, John Locke zur Einführung. 2., überarbeitete Auflage. Hamburg : Junius, 2004 (Zur Einführung ; 300), S. 59 – 60 (zu unterschiedlichen Gesetzesarten bei John Locke, An Essay Concerning Humane Understanding [„Ein Versuch über den menschlichen Verstand“] 2, 28):

„Die erste Gesetzesart stellt das göttliche Gesetz (divine law) dar. Dieses hat Gott auf zweierlei Weise verkündet: zum einen durch die Offenbarung und zum anderen durch das »Licht der Natur« (light of nature). Das Lockesche göttliche Gesetz umfaßt gemäß der traditionellen Naturrechtsdogmatik eigentlich zwei Gesetzesarten: das göttliche Gesetz, d. h. das geoffenbarte Gesetz, und sodann das Gesetz der Natur oder das Naturrecht.“

Vgl. auch Rainer Specht, John Locke.2., überarbeitete Auflag, Original-Ausgabe. München : Beck, 2007 (Beck'sche Reihe : Denker ; 518), S. 155 – 158 (das Gesetz der Natur) und S. 162 (Naturzustand): „Leben, Freiheit und Eigentum sind im Naturzustand vielfach gefährdet, und die Ausübung des natürlichen Selbsterhaltungs- und Strafrechts durch jedermann schafft Unsicherheiten. Trotzdem ist der Naturzustand kein Zustand der Willkür. In ihm herrscht das natürliche Gesetz, das die Vernunft erkennbar macht. Es besagt, daß man niemandes Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum antasten darf, und es verpflichtet jeden, sich selbst und möglichst auch die übrige Menschheit zu erhalten, und zwar notfalls mit Gewalt. Das natürliche Gesetz gibt jedermann das Recht, Übergriffe zu bestrafen, Leben, Freiheit und Eigentum zu verteidigen und gegebenenfalls Wiedergutmachung zu erzwingen (I. 2).“

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Das Naturgesetz lautet: “dass niemand einem anderen [...] an seinem Leben und Besitz [...] Schaden zufügen soll”. Das ist sozusagen eine soziale Gleichgewichtsbedingung (Formulierung schon bei Epikur).

Das Wesentliche ist, dass Locke 1690 entgegen der kirchlichen Lehre, (darum die Veröffentlichung auch anonym) kein göttliches Gesetz mehr kennt, sondern mit diesem "Grundgesetz" die Basis legt für eine gesellschaftliche Evolution ohne göttliches Einwirken. Darum zählt er zur Aufklärung.

Der Naturzustand ist sozusagen eine 0-Position, von der aus Locke die Entwicklung der verschiedenen Staatssysteme herleitet als evolutionäre Zwischenstationen zum modernen Staat, dessen Verfassung auf gegenseitiger Vereinbarung beruht.

Albrecht  05.11.2010, 02:56

Die Behauptung, John Locke kenne bzw. vertrete kein göttliches Gesetz mehr, ist unzutreffend. Grundsätzlich ist ein Deutungsversuch, der Verschleierungsmanöver aus Vorsicht annimmt, möglich. Wenn aber die Textstellen deutlich das Gegenteil zu einer Deutung aussagen und eine Theorie die darin enthaltenen Gedanken in ihrem Gesamtaufbau verwendet, ist die Deutung nicht überzeugend.

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Ist doch eigentlich ganz gut erklärt... aber o.k., man kann auch sagen "göttliche" Ordnung oder TAO.