Ist Nietzsches Übermensch in der heutigen Zeit vorstellbar?

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Der „Übermensch“ ist eine Zuspitzung des Nietzsche-Gedankens vom „Willen zur Macht“

„Der Mensch ist Wille zur Macht und nichts außerdem, und ihr selbst seid Wille zur Macht und nichts außerdem!“

Mit diesem ungeheuren Satz hat Nietzsche - nach meiner Meinung - das wahre Wesen des Menschen umschrieben. Denn wer über Macht verfügt (gemeint sind die in einem Menschen vorhandenen Talente, Fähigkeiten, irgendeine Anlage oder ein Können, das ihn aus der Masse heraushebt und ihm Macht verleiht), wird, ohne Rücksicht auf Schwächere, diese Macht auch ausspielen.

Und wenn wir genau hinschauen und das menschliche Verhalten im Lichte dieses von Nietzsche formulierten neuen Prinzips (des Willens zur Macht) betrachten, „öffnet sich dann vor uns nicht ein ganzer Fächer erhellender Einsichten? Erkennen wir nicht, dass der „Wille zur Macht“ an jeder politischen Aktivität Anteil hat und, wenn wir den Eingeständnissen unserer Wissenschaftler glauben dürfen, auch an aller Forschung in den Wissenschaften? Beeinflusst er nicht alle unsere Empfindungen und Gefühle, und ist er nicht im sozialen und familiären Bereich überall gegenwärtig?“ (s. J.P. Stern, Nietzsche, Die Moralität der äußersten Anstrengung, 1982, S, 200 ff)

Nietzsche will durch die drastische, überpointierte Herausstellung des Willens zur Macht klar machen, dass nur durch freie Entfaltung der dionysichen Kraft im Menschen das Leben lebenswert erscheint. Tatsache ist: der Mensch wird nur in den seltensten Fällen sein Ego und die Güter der Welt verachten und damit seinen Willen zum Leben verneinen (wie von Schopenhauer für möglich gehalten). Deshalb ist er also von wahrer Tugend wie Mitleid, selbstloser Freundschaft und Liebe immer ziemlich weit entfernt. Der Wille siegt. Jede Negierung, jede Ächtung, jede Verunglimpfung dieses „Willens zur Macht“ führt zu seiner Schwächung und damit zu einer Erniedrigung dessen, der den Machtwillen in sich abwürgt; Erniedrigung deshalb, weil der Betreffende dann von denjenigen, die sich zu ihrem Machtwillen bekennen, unterdrückt wird. Alle Lehren, die auf Dämpfung oder gar Abtötung des Machtwillens zielen, sind heuchlerisch und dekadent; so die demokratische und die christliche Moral (sagt Nietzsche). Die Heuchelei bestehe darin, dass in Wahrheit immer und überall der Machtwillen des Einzelnen sich Bahn breche, während trotz der ehernen Wahrheit dieser Tatsache sich manche von der christlichen Morallehre für dumm verkaufen und sich zur Gutmütigkeit verleiten lassen (meint wiederum Nietzsche). 

Die höchste Erscheinung des „Willens zur Macht“ aber ist der Übermensch. Er soll durch Züchtung aus der Mitte starker und machtbewusster Eliten hervorgehen und an die Stelle Gottes treten, der ja (angeblich) tot ist. Nach der Entwertung der überlieferten Werte ist so eine „Umwertung aller bisherigen Werte“ nötig. Die bisherige „Sklavenmoral“ der „Schlechtweggekommenen“ (die christliche und bürgerliche Moral, die nur den Schwächeren nütze und den Stärkeren benachteilige – sagt Nietzsche) wird ersetzt durch die „Herrenmoral“ der Vornehmen der Erde als Vorläufer des Übermenschen. Da Nietzsche sogar die Ethik Kants ablehnt, erfindet er diese neue „Moral“ des „Übermenschen“, wobei man berücksichtigen muss, dass dieser Übermensch kein reales Wesen ist, sondern nur eine Denkfigur.

Die Frage ist: wer kontrolliert diesen Übermenschen, diesen höchsten Repräsentanten des Willens zur Macht? Antwort: er kontrolliert sich selbst! Er dürfe zwar seine Macht sowohl zum Guten wie zum Schlechten ausüben, also gewissermaßen Übertier und Untier zugleich sein, aber da er auch die übermenschliche Fähigkeit zur Selbstkontrolle besitze, halte er alle Potentiale in sich – die Fähigkeiten zum Guten wie zum Schlimmen – im Gleichgewicht.

 Zwar hat Nietzsche in seinen Schriften der mittleren Periode (erst recht in den Spätschriften) die Frage der Kontrolle offen gelassen (z.B. in der „Morgenröte“, Nr. 96: „…wenn also die Moral im alten Sinne gestorben sein wird, dann kommt..., ja, was kommt dann?“). In der „Götzendämmerung“ (V, § 2) steht aber folgender Satz: „Verschneidung, Ausrottung...: Die radikalen Mittel sind nur den Degenerierten unentbehrlich, denn sie sind zu schwachen Willens, um Mäßigung walten zu lassen“. Hier wird klar: Nietzsche sah in der Zügellosigkeit etwas „Degeneriertes“, und der „Wille zur Macht“ eines Kriminellen muss ja kontrolliert werden! Verkümmert (degeneriert) ist bei dem zügellosen Menschen ein wesentlicher Teil des Willens zur Macht, die Vernunft. Sie aber muss gleichrangig neben den Naturkräften stehen, welche im Menschen angelegt sind und die man - nach Nietzsches Auffassung - auf keinen Fall durch eine Moral unterdrücken darf; denn das Ideal Nietzsches ist der ganzheitliche Mensch, der seinen Willen zur Macht umfassend entfaltet. Erst wenn das der Fall ist, wenn also auch die Vernunft im Menschen voll entwickelt ist, kann der „vernünftige“ Mensch seine Leidenschaften und Triebe „mäßigen“. Mit anderen Worten: Nietzsche sah in der Vernunft die Instanz im Menschen, die über seine Instinkte und Leidenschaften kontrollierend zu wachen hat. Im gesellschaftlich-staatlichen Bereich heißt das dann: die Staatsvernunft greift kontrollierend ein, um dem zügellosen Machtwillen des Einzelnen Grenzen zu setzen.

Allerdings hat Nietzsche das so direkt nirgends gesagt! Aber er hat Folgendes gesagt: „Ich glaube, dass alles, was wir in Europa heute als die Werte aller jener verehrten Dinge, welche „Humanität“, „Menschlichkeit“, Mitgefühl“, „Mitleid“ heißen, zu verehren gewohnt sind, zwar als Schwächung und Milderung gewisser gefährlicher und mächtiger Grundtriebe einen Vordergrund-Wert haben mag, aber auf die Länge hin trotzdem nichts anderes ist, als die Verkleinerung des ganzen Typus Mensch - seine Vermittelmäßigung (Nietzsche Bd. XIV, S. 66). Also doch keine Herrenmoral und Außerkraftsetzung der Sklavenmoral? Hier gibt Nietzsche indirekt selbst zu, dass seine Lehre vom Übermenschen Phantasterei ist. Die rückhaltlose Anerkennung des Willens zur Macht als neue Moral und die Vergötterung des Übermenschen, der diese neue Moral setzt und durchsetzt, müsste die Menschheit in die Barbarei stürzen. Niemand ist deshalb Nietzsche soweit gefolgt, die zügellose Entfaltung des Machtwillens als neue Moral (anstelle der „dekadenten“ Mitleids-Moral) und den Übermenschen als neuen Typus einer „befreiten“ Zukunftsgesellschaft“ anzuerkennen - niemand, außer Hitler (vielleicht), aber Nietzsche hätte dessen Verständnis und Praktik des Willens zur Macht mit Sicherheit abgelehnt. Er hätte in Hitlers „Moral“ etwas Dekadentes gesehen (s.o.).

 Doch - wie gesagt - diese Überpointierung und Zuspitzung des Willens zur Macht in Gestalt des Übermenschen taugt nicht für die Lebenspraxis. Nietzsche weiß ja selbst, und er sagte es in seiner ersten philosophischen Phase, dass es im Menschen neben der dionysischen Kraft des Machtwillens noch eine zweite, geistige Kraft des Apollinischen gibt (von Apollo: Gott der Ordnung, der Rationalität und des Intellekts sowie der Dichtkunst). Diese apollinische Seite will alles formen und bändigen, ordnen und gestalten. Zwar soll sie dem (dionysischen) Willen, von dem die eigentliche Dynamik des Lebens ausgeht, untergeordnet sein; aber das Apollinische wird und soll weiterhin seine ordnende Kraft ausüben bzw. sie muss ihre Kraft ausüben, um nicht das Chaos, den Kampf aller gegen alle, herbeizuführen; nur dürfe das „Apollinische“ dabei nicht die wichtigere dionysische Seite im Menschen allzu sehr schwächen.

Die Zeit dieser Philosophen ist endgültig vorbei und das ist auch gut so.

Was diese Hirnwi*****er mit ihren Utopien angerichtet haben, ist Geschichte und was Nietzsches Übermensch heutzutage noch zu suchen hat, ist nach der brutalen Naziherrschaft wohl überflüssig, sich das vorzustellen.

Haldor  16.01.2018, 15:46

Irrtum! Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, die das eigentliche Wesen des Menschen umschreibt, ist selbstverständlich für immer aktuell.

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quantthomas  16.01.2018, 16:53

Von der "Lehre" bis zur Anstiftung ist es manchmal nur ein kleiner Schritt. Das faseln von einem heroischen Übermenschen birgt in sich, allen anderen, also diesen "Untermenschen" das Lebensrecht zu entziehen.

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