Interpretation für die Karikatur „Selbsterhaltung“aus 1870?


24.04.2023, 22:37

Und befürwortet der Zeichner die Annexion von Elsass-Lothringen?

3 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

 

Die Karikatur ist aus der politisch-satirischen deutschen Zeitschrift Kladderadatsch („Humoristisch-satyrisches Wochenblatt“), 23. Jahrgang, Nr. 41, 4. September 1870, S. 368,

https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kla1870/0368/image,info

https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=kla&datum=18700904&seite=4&zoom=33

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:KarikaturElsass-Lothr.jpg

Im 1870 ausgebrochenen Deutsch-Französischen Krieg hatten die französischen Truppen in der Schlacht von Sedan am 1. und 2. September 1870 eine schwere Niederlage erlitten. Kaiser Napoleon III. und das dortige französische Heer hatten sich ergeben. Sie wurden Gefangene.

Im Zeitalter des Nationalismus hat es in diesem Krieg von deutscher Seite Äußerungen gegeben, Elsass und Lothringen sollten an Deutschland zurückkommen (die Gebiete waren längere Zeit Streitobjekte zwischen Deutschland und Frankreich, im 16. und 17. Jahrhundert hatten die Könige von Frankreich sie an sich gerissen). In Elsass und Lothringen hatten 1870 bisher die meisten Kriegshandlungen stattgefunden, die Gebiete waren größtenteils von deutschen Truppen besetzt.

Der Titel der Karikatur ist „Selbsterhaltung“.

Die Bildunterschrift ist: „Man muß der Bestie die Krallen abschneiden, damit man künftig Ruhe vor ihr hat."

Die „Bestie“ ist in der Darstellung der Bär und steht für Frankreich.

König Wilhelm I. von Preußen und Kronprinz Friedrich Wilhelm stehen in militärischer Uniform seitlich vom Bären und haben ihn kontrollierend im Griff. Ihm ist ein Kopfhalfter angelegt (Riemen um die Schnauze mit Leinen, die am Hals entlang führen, auch am Nacken/vorderen Rücken ist etwas umgebunden). So kann er mit den Zähnen seines etwas geöffneten Maules nicht zubeißen. Die beiden Männer haben seine Vorderpfoten auf einen Tisch gedrückt und halten sie fest, so dass er nicht weglaufen oder sich entziehen kann. Dies ist auf die militäische Lage mit den deutschen Kampferfolgen bezogen.

Links steht in Zivilkleidung (Hemd und Anzugsjacke bzw. Frack) Otto von Bismarck, Ministerpräsident von Preußen und preußischer Außenminister seit 1862. Er hat eine Schere an die Krallen des Bären angesetzt und blickt konzentriert nach unten auf sie. Er hat offensichtlich die Absicht, dem Bären die Krallen abzuschneiden. Die Krallen stehen, wie Aufschriften auf ihnen angeben, für Elsass und Lothringen.

Der Zeichner Wilhelm Scholz befürwortet eine deutsche Annexion von Gebieten des Elsass und Lothringens (nicht ganz klar ist, wieviel annektiert werden soll, es geht zu diesem Zeitpunkt um eine beabsichtigte Annexion, noch keine vollzogene).

Dies wird mit „Selbsterhaltung“ begründet. Selbsterhaltung bedeutet Bewahrung des eigenen Lebens/der eigenen Existenz. Deutschland wird als durch ein aggressives Frankreich (als Angreifer in dem Krieg verstanden) bedroht dargestellt, das als Ruhestörer gilt und wie ein gefährliches Raubtier, eine wilde Bestie betrachtet wird. Die beabsichtigte Annexion wird als Schutzmaßnahme legitimiert (gerechtfertigt). Nach der Karikatur handelt es sich um eine notwendige („Man muß“) Handlung der Selbsterhaltung, um eine Sicherung für die Zukunft.

Als Legitimation wird also ein Sicherheitsbedürfnis genommen, nicht ein Hinweis auf eine deutsche Vergangenheit der Länder Elsass und Lothringen oder einen wirtschaftlichen Nutzen (1871 waren militärstrategische Überlegungen zur Grenzsicherung gegenüber Frankreich und nationale Forderungen zur Rückeingliederung vorhanden, auch gab es dort viele Bodenschätze und eine fortgeschrittene Industrialisierung).

Das Vorgehen wird wie eine sachbezogene Maßnahme eines Mediziners dargestellt. Bismarck in seiner politischen Funktion handelt gleichsam wie ein Tierarzt, der einen operativen Eingriff durchführt und sorgfältig darauf achtet, einen präzisen Schnitt vorzunehmen.

Innerhalb der bildlichen Darstellung könnte überlegt werden, ob Schmerz, Demütigung und Verstümmelung für eine zukünftige Ruhe ungünstige Schattenseiten haben könnte. Anscheinend wird dies aber nicht als störend empfunden und auf Ruhigstellung durch Schwächung gesetzt.

Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde : Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792 – 1918. Stuttgart : Klett-Cotta, 1992 (Sprache und Geschichte ; Band 19), S. 288:

„So aggressiv wie der „Kladderadatsch" jedenfalls waren die anderen illustrierten Zeitschriften nicht. Dieser zeigte einen französischen Korporal mit einem Affengesicht, der einen Zuaven vor sich her zum Kampf treibt. Zwischen ihm und dem Schwarzen besteht allein noch der Unterschied der Hautfarbe, sonst unterscheidet beide nichts mehr voneinander. Das Zitat aus dem „Gaulois" unter dem Bild wird durch den gezwungenen Schwarzen konterkariert - zum Trost der in Angst und Schrecken versetzten Leserschaft, die sich zugleich ein Bild davon machen kann, welche Formen im Land der „Civilisation“ das Militärwesen angenommen hat […].

Die Soldaten der allgemeinen Wehrpflicht konnten sich nur positiv von solchen gedungenen und gezwungenen Truppen absetzen. Wurden hier sozusagen „Menschenbestien“ vorgestellt, so ging der „Kladderadatsch" noch einen Schritt weiter und brachte im September 1870 unter der Überschrift „Selbsterhaltung“ eine Zeichnung, in der die französische Nation selbst als Bestie ins Bild gerückt wurde […]. Bismarck schneidet ihr die Krallen „Elsaß“ und „Lothringen“ ab, „damit man künftig Ruhe vor iht hat“. Dieses Bild komponiert deutsches Selbstverständnis, deutsche Annexionsforderungen und den umgewendeten Barbarentopos zur Legitimation des „deutschen Krieges“, wie der Krieg von 1870/71 in der deutschen Publizistik häufig genannt wurde. Es frappiert die Sachlichkeit, die in diesem Bild dem gleichsam operativen Eingriff verliehen wird. Krieg und Annexion werden zur Maßnahme. An die Stelle des sonst zitierten göttlichen Willens tritt der Eingriff des Tierarztes Bismarck und seiner weltgerichtlichen Schere.“

Monstrumofaevum 
Fragesteller
 25.04.2023, 14:09

Vielen herzlichen Dank für diese ausführliche Antwort!!!

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mir fällt dazu nur der Widerspruch auf, dass bei so einer "Bestie" die Zähne weit gefährlicher sind als die Krallen, das also nur eine Ausrede sein könnte um das Abschneiden von Elsass und Lothringen zu rechtfertigen...

eigentlich sehr einfach. Die Bestie symbolisiert Frankreich und Elsaß und Lothringen (die Krallen) wurden 1871 von Deutschland annektiert. Im Prinzip könnte man auch sagen, "zurückgeholt", weil Frankreich sich lange Zeit auf Kosten deutscher Länder nach Westen (also Richtung Deutschland) vorgeschoben hat und zuletzt um 1800 unter Napoleon den alten Staatenbund zerschlagen hat und nach eigenem gutdünken Mitteleuropa neu ordnete.