Hilfe bei Interpretation von Barockdichtung?

2 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Okay, das war das erste Mal dass ich mich mit diesem Text auseinandergesetzt habe, aber ich muss sagen, dass es mit dem Kontext, den du gegeben hast, eigentlich einfach war den Sinn zu verstehen. Es sei denn ich darf den Text nicht wörtlich nehmen, denn in dem Fall bin ich komplett lost.

Ich versuche die einzelnen Passagen mal ins moderne zu Übersetzen. Ganz am Schluss packe ich meine Interpretation dazu, soweit ich die eben tun kann. Dazu muss gesagt sein, dass ich mich NOCH NIE mit altertümlicher Sprache oder mit diesem Gedicht und dem Konflikt auseinandergesetzt habe, daher entschuldige, falls das etwas dilettantisch ist.

   (J)R Dryaden/ ach lasset doch die blůmlein stehen

Die ich wol sonsten pflag mit Freuden anzu=

sehen

Brecht darvor Rosen ab/

Vnd Streut zum letzten willen Sie

Vff Eurer Schwester Grab.

Dryaden (auch Baumgötter/Nymphen), ach lasst doch die Blumen stehen, die ich sonst so gerne angesehen habe. Brecht davor die Rosen ab und streut sie als letzten Willen euer Schwester auf ihr Grab.

Raumbt meine Myrthen weg von allen gruͤnen

Plaͤtzen

Vnd thut an derer Stell Cypressen Baͤume setzen

Zum Zeugnuß meines Todts

Auff daß der Wandersman noch sprech:

Der Seelen Gnade Gott.

Raubt die Myrthen (laut Pflanzenlexikon die Pflanze die Schönheit und Liebe und LEBEN symbolisiert) und pflanzt an ihrer Stelle Zypressen (Baum der für die Unterwelt ,also den TOD steht) Zum Gruß meines Todes, sodass Wanderer sprechen: "Der Seelen Gnade Gott"

Jhr Pfeiffer wartet nur/ jetzt wirdt man mich

 außtragen/

Dem Außwendigen feind zum lust vnd wohlbehagen/

Dem jnnern Freund zu spott

  Der mich vielmehr als jener hat

Gebracht in diese Noth.

Ihr Pfeiffer (Spielmann, Musiker) wartet nur, man wird mich austragen (also im Sarg aus der Stadt). Der Feind wird Wohlbehagen empfinden, und der "innere Freund" wird es lustig finden, da er mich in diese Lage (das totsein) gebracht hat.

so jetzt wirds´n bisschen schwerer:

Hoͤr wann mein Kraͤntzlein hin/ vnd ich nun vn=

tergangen/

Meinst du mein Vngluͤck wird an dich gar nicht ge=

O bilde dirs‘ nicht ein/                                     (langen/

Dann pfleget nicht gemeiner Fall

Eins jeden mit zu seyn.

Hör, wann mein Kränzlein hin (also der Kranz wird aufs Grab gelegt) und ich nun untergegangen (unter der Erde vergraben). Meinst du mein Unglück wird dir nicht auch passieren? Oh, bilde dir nichts ein, dann passiert diese Gemeinheit dir auch nicht. (Quasi jinx es nicht, sag nicht, "oh es könnte mir NIE passieren" denn es WIRD dir passieren, wieg dich nicht in falsche Sicherheit, sonst landest du auch da wo ich gelandet bin (im Grab))

Wie daß du dann nicht wilt/ was Zwytracht sey

verstehen?

Thu doch etwas zu ruck der zeiten laͤufft besehen

Dann darauß wird erkandt

Daß nichts dann entliche Ruin/

Verursacht Mißverstand.

Wie kann es sein, dass du die Zwietracht die gesäät wurde nicht verstehst, oder verstehen willst? Sieh doch in die Vergangenheit, denn daran erkennst du, dass der ganze Ruin, die ganze Katastrophe aus einem Missverständnis entstand.

Warumb bleibt jhr zurück/ solt jhr mir nicht bey=

springen

Jetzund nach meinem Fall muͤst jhr gleichs Liedlein

singen/

Alß ich gesungen hab/

Darumb so war jhr Nymphen seit

Solt nicht gehetzt han ab.

Warum bleibt ihr zurück und wollt mir nicht beistehen? Jetzt und nach meinem Tod müsst ihr gleich ein Lied singen, so wie ich gesungen habe (??????) deshalb seid ihr ja Nymphen, so dass keine Unzufriedenheit entsteht (Hetzte ist nicht nur Hast, sondern auch Hass und Unzufriefriedenheit erzeugen, das heißt die Nympfen sollen wieder ihr Lied voller Freude singen, damit nicht noch mehr Unzufriedenheit entsteht, denke ich)

Da jhr doch ausser dem/ daß jhr mich Schwester

nennet/

Mein Hauß so in der naͤh/ sollt retten weil es brennet/

Dann ein so naher Brandt

 Kan leicht nicht ohne groß Gefahr

Anstecken Euer Wand/ rc.

Da ihr mich Schwester nennt, sollt ihr mein brennendes Haus retten, weil ein so naher Brand kann ganz leicht eure eigene Wand (Haus) anzünden.

So nun meine Interpretation.

Es ist ein Klagelied, das eindeutig von dem Brand der Stadt spricht. Die Nymphen und Myrthen und Zypressen stehen für die Stadt die sehr stark mit der Natur in Verbindung gebracht wurde. Ich lege mich jetzt mal daran fest, dass der Autor eine „Frau“ als Protagonistin ausgesucht hat, einfach weil da oft „Schwester“ steht und ich zu Müde bin um mir da irgendwas weiter hineinzuinterpretieren. Tun wir mal so. Also, die imaginäre Frau ist bei den Bränden umgekommen. Ihr Geist (tun wir mal so als ob, ist doch egal) wehklagt und spricht zum Leser. Sie will dass die Blumen, die in der Stadt geblüht haben stehen bleiben, auf ihr Grab aber Rosen gestreut werden sollen, sodass nicht noch mehr zerstört wird. Anstatt also die Blumen und Myrthen, die laut Mythologie für „Leben“ und „Schönheit“ stehen, sollen sie „Zypressen“ planzen, damit auch in Zukunft Wanderer an der Stadt vorbekommen und sich an diese Katastrophe erinnern. Also im Grunde sollen die Zukünftigen Blumen der Stadt (oder Bäume) für immer das lebende Zeugnis dieser Katastrophe sein. Die Musiker stehen schon bereit und die Frau wird aus der Stadt ins Grab getragen. Die Feinde freuen sich, weil sie natürlich einen weiteren Feind besiegt haben, aber der „innere Freund“ der die Feuer (VIELLEICHT, man geht ja davon aus, aber weiß es nicht zu 100%) gelegt hat freut sich innerlich, weil es bedeutet, dass der Feind sie nicht auch noch bekommt (oder freut sich, weil er ein Verräter ist). Die Leute die am Grab stehen, nachdem sie begraben wurde, werden aber vom Geist der Frau gescholten: Nur weil sie überlebt haben, heißt das nicht, dass das nicht wieder passieren könnte. Man kennt es ja. Jemand stirbt und ein Teil von uns freut sich, dass es uns nicht erwischt hat, sondern die anderen. Aber das ist ein Fehler, weil sowas jederzeit passieren kann und man selber im Grab landet, wie auch die Frau. Des weiteren appeliert der Geist an den Verstand der Menschen (was auch 400 Jahre später nix gebracht hat, Menschen sind auch weiterhin dumm und machen den selben Fehler, also gg) Dass die Leute die da stehen nicht einfach in die Zukunft schauen und weiterleben sollen, sondern auch einen Blick in die Vergangenheit werfen müssen. Denn da liegt der Grund für das Unglück, ein ganz einfaches Missverständnis. So wie du geschrieben hast, haben sich die Soldaten Missverstanden gefühlt und wegen zu wenig Geld die Stadt einnehmen wollen. Sie haben deshalb alles in Brand gesetzt. Und selbst wenn sie es nicht waren, ist es komplett egal, weil der Fürst oder wer auch immer anstatt daraus zu lernen und die Fehler in der VERGANGENHEIT gutzumachen seine Leute ausgeschickt hat um den Brand zu legen. Beides könnte passiert sein, ist aber egal, weil beide Seiten Schuld haben. Daran wird appeliert. Und es ist nun mal so dass die wenigsten Menschen das verstehen und sich lieber die Schuld zuschieben. Dabei ist ein einziger Blick in die Vergangenheit genug damit einem klar wird warum das Schreckliche passiert ist.

Am Ende sagt der Geist: Warum steht ihr noch an diesem Grab? Singt, so wie ich gesungen habe (also Lebt in Freude) und verbreitet weiterhin Freude, damit nicht noch einmal so etwas passiert. Dazu kommt noch eine Moral der Geschichte dazu: Die Leute sollten sich gegenseitig retten (oder den Brand löschen), weil der Brand ganz einfach überspringen kann, aufs nächste Haus.

Wenn man nicht umeinander kümmert, geht es allen irgendwann schlecht.

THE END

Joa das war alles, hat Spaß gemacht! Danke für die Frage :D


JoAugust 
Beitragsersteller
 12.02.2025, 10:03

Erstmal vielen Dank für die ausführliche Antwort! Gerade die Strophe mit dem Verweis auf das Lied und die Mahnungen an den Leser (oder Hörer, es ist ja ein Lied) habe ich gestern nicht so ganz verstanden, aber was du schriebst, ergibt Sinn.
Eine Sache allerdings, die mir jetzt bei der Lied-Strophe noch gekommen ist: Die Stadt Magdeburg war ja eine protestantische Hochburg, Schauplatz von Ereignissen des Reformationszeitalters, Druckort von Flugblättern usw. Die Mahnung, das Lied zu singen, das ich vorher gesungen habe, ist nicht zwangsläufig eine Aufforderung, fröhlich zu sein, sondern vielleicht eher der Aufruf an den Rest des HRR, jetzt die protestantische "Stimme" zu sein, die vorher Magdeburg war - sprich, antikatholische Lieder zu singen und für die Anliegen der protestantischen Seite einzustehen und zu werben.
Interessant (wenn auch absolut typisch für den Barock) finde ich, dass der Autor hier gerade nicht von Protestanten und Katholiken spricht und keine (christlichen) religiösen Metaphern verwendet, sondern in die griechische Mythologie zurückgreift. Das ist vielleicht auch ein Zeugnis davon, dass zu diesem Zeitpunkt des Krieges Konfessionen und religiöse Uneinigkeiten längst in den Hintergrund und dafür politische Machtkämpfe in den Vordergrund gerückt sind. Dementsprechend ist meine Bezeichnung der Parteien als protestantisch und katholisch wahrscheinlich viel zu undifferenziert.
1631 ist auch ein entscheidender Wendepunkt im andauernden Krieg: Danach löst sich alles im Wesentlichen in Chaos, Pest, Brandschatzung, Mord, Missbrauch usw. auf. Die Magdeburger Hochzeit (20.000 Tote) war das grausamste Einzelereignis dieser Zeit. Der Prosatext in der verlinkten Quelle liest sich (bei Interesse) durchaus interessant, wenn auch grausam. Da ist zum Beispiel die Rede davon, dass man unter den eingestürzten Gebäuden noch Tage später die sterbenden Menschen hat schreien und heulen hören.
Eine Sache möchte ich jedoch noch korrigieren: Ich würde nicht sagen, dass sich die Soldaten missverstanden gefühlt haben. Sie wussten, was in ihrem Job auf sie zukommt. Die übliche "Bezahlung" der Landsknechte war damals die gestohlene Ware aus den Gebieten, die sie zwischen den Schlachten verwüstet haben. Die arme Landbevölkerung war dem in der Regel schutzlos ausgesetzt - und obwohl den Soldaten unmittelbare Morde an Unbeteiligten verboten waren, gab es keine funktionierende Rechtssprechung, die das unterbinden konnte. Die wahrscheinlich traumatisierten Soldaten hatten zum Teil überhaupt keine Hemmungen - Magdeburg ist ein Beispiel dafür.
Aber bei der Interpretation dieser Strophe (der mit dem Mißverstand) hilft der Artikel im frühneuhochdeutschen Wörterbuch, in dem es für "misverstand" zwei Definitionen gibt: einmal das Missverständnis, einmal "›Zwietracht, Mißhelligkeit, Zerwürfnis, Streit, Uneinigkeit hinsichtlich einer sozialen, wirtschaftlichen, politischen, religiösen Frage‹, mit Tendenz zu ›Anfeindung, Bekämpfung (des Andersdenkenden)‹" Diese Definition finde ich herrlich, weil sie zu 100% auf die Situation des 30-jrg. Krieges passt. Der Autor geht also nicht zwangsläufig davon aus, dass ein Missverständnis zu der Zerstörung Magdeburgs geführt hat, sondern vielmehr der Krieg im Allgemeinen. Daraus kann man eine klare pazifistische Tendenz lesen! Im Wesentlichen sagt das ganze Lied ja: Wenn der Krieg so weiter geht, bleibt Magdeburg nicht die einzige Stadt mit diesem Schicksal - passt also auf, Leute.
Aber abgesehen davon fand ich deine Interpretation ziemlich treffend und sehr hilfreich, vielen Dank noch einmal!

RoterKiwi  11.02.2025, 23:22

Achja und ganz allgemein ist der der Titel des Gedichtes "Klagelied" ganz passend. Im Grunde wird hier nur wegen der furchtbaren Situation geklagt und dass Menschen dumm sind und besser aufeinander achtgeben sollen. Außerdem darf diese Tragödie nie vergessen werden. Ich glaube mehr gibt es nicht zu interpretieren.

JoAugust 
Beitragsersteller
 12.02.2025, 10:07
@RoterKiwi

Ach so, und ich wollte noch gesagt haben, dass dein Verständnis frühneuhochdeutscher Sprache ziemlich gut ist für jemanden, der damit noch nie wirklich in Berührung gekommen ist. Ich beschäftige mich regelmäßig mit solchen Quellen und muss immer noch viele Worte nachschlagen.

Ich finde du hast schon ziemlich alles erkannt.

Woher ich das weiß:Hobby

nightmare2020  11.02.2025, 17:36

Ich meine, das Lied wiederholt nur das, was du bereits als Information gegeben hast.

JoAugust 
Beitragsersteller
 12.02.2025, 10:12
@nightmare2020

Ja, es ging mir vor allem um ein paar Nuancen. Ich konnte zum Beispiel nichts zur Bedeutung von Myrthen und Zypressen finden und die Mahnungen an den Leser habe ich auch nicht so recht kapiert.