Gibt es für Autisten einen Nachteil mit der "neuen" Diagnostik nach dem ICD-11?

2 Antworten

Ich Persölich habe da auch keine Grosse Kritik zu gehört. Die menschen mit ASS die ich drüber reden hören habe sehen das eher Positiv. Die ansicht des Spektrums. Insbesondere im kontext von erwahsenen mit ASS wird eher positiv gesehen und auch von etlichen Austisten so verbreitet.

Ich persönlich sehe das ganze auch als eher Positiv an. Habe selbst keine Diagnose. Aber so gesehen ist das Bild von der ASS so wesentlich sinnvoller als die alte Klassifizierung da die Probleme ja alle imgrunde individuell sind und jeder etwas anders ist.

In der rezeption von anderen, bzw. Normalos. Wird die neue Klassifikation warscheinlich keinen unterschied machen. Deren bild von Autismus ist ja eh eher von den medien geprägt als vom Klinischen wissen.

Was Fachpersonal angeht so würde ich mir erhoffen das dadurch stereotype abgebaut werden. Denn diese gibt es ja auch dort. und somit weniger menschen (besonders Frauen) abgelehnt werden weil sie nicht ein Stereotypisches bild eines Autisten abgeben. In der hoffung das es so weniger zu Fehldiagnosen kommt. (Vorallem falsch negativ diagnosen.)

Ich schreibe momentan meine Facharbeit zum Thema ASS (speziell zum frühkindlichem Autismus).

Bist du denn selber Autistin/Autist? Auf welchen Seiten informierst du dich?

Ich will dir nicht reinreden, aber sehr oft werden Fehlinformationen über uns verbreitet und ich würde ungerne, dass du diese - ungewollt - noch bestärkst.

Da gibt es sehr viel zu beachten. Autismus ist wirklich kein gutes Thema, um ein Vortrag darüber zu halten, der in ein paar Minuten abgehandelt werden muss. Du wirst sehr vieles nicht tiefgründiger beleuchten können und daher könnten deine Zuhörer mit einem falschen Bild über uns und unsere Behinderung herauskommen. Leider ist das alles sehr komplex.

Das fängt ja schon bei der alleinigen Definition von Autismus an. Viele definitieren Autismus als etwas, was mit dem Verhalten zu tun hat, oder etwas Psychisches ist, etwas, was eine Krankheit oder ein genereller Defizit ist.

Dabei muss ich aber ASS allgemein definieren. In Deutschland gilt momentan noch der ICD-10, wo in verschiedene Formen von Autismus unterschieden wird. Im DSM-5 und auch im ICD-11 ist dies allerdings nicht mehr der Fall.

Na ja, der ICD-11 darf und kann hier auch schon seit Anfang 2022 benutzt werden. So ist's nicht. Es sind nur - leider! - noch nicht alle Ärzte dazu verpflichtet. Bis dahin wird es noch dauern. Deutschland hinkt mal wieder über 10 Jahre hinterher.

Ich würde in dem Vortrag auch nur von ASS/Autismus-Spektrum-Störung sprechen und eventuell kurz zu Anfang anschneiden, dass hier in DE zwar theoretisch noch der ICD-10 verwendet werden darf, dieser aber sowieso nicht mehr aktuell ist und du dich daher korrekterweise auf den ICD-11 konzentrierst.

Der Grund für diese Zusammenfassung der Unterformen ist ja auch, dass die einzelnen Formen sehr häufig sehr schwer voneinander zu unterscheiden sind. Eine 100%ige Einteilung ist selten möglich. Wenn selbst Ärzte/Experten (auf Autismus spezialisierte Neurologen und wahlweise auch Psychiater) das oft nicht hinbekommen; wie soll das dann der Ottonormalbürger?

Eine Einteilung in Unterformen versucht auch, Autismus in "mild"/"schwach" und "stark" ausgeprägt zu stecken. Dazu verlinke ich immer wieder gerne diesen Artikel, der das Thema "Autismus-Spektrum" sehr gut erklärt: https://neuroclastic.com/its-a-spectrum-doesnt-mean-what-you-think/

Natürlich ist es immer ein Muss - unabhängig davon, ob du selber Autismus hast oder nicht - viele andere Autisten/Frühkindliche Autisten zu befragen. Es kann dir schließlich niemand so viele Einblicke und Informationen zum Alltag, Leben, Gehirn, zur Gedanken- und Gefühlswelt von uns Autisten geben, als wir Autisten selber. Und jeder Autist wird dir etwas anderes sagen.

Gerne würde ich wissen ob es hier dann Nachteile für Menschen mit ASS gibt. 

Ich hatte dadurch noch nie irgendwelche Nachteile gehabt. Vor allem ist es auch nicht so, als würde einem dann die Diagnose entzogen werden und man müsste sich neu diagnostizieren lassen. Wenn man z.B. 2007 mit dem Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde, per ICD-10, und dann wird es irgendwann vollständig umgeändert auf den ICD-11, ist man noch immer Autist, man hat noch immer die Diagnose. Nur heißt es eben nicht mehr Asperger-Syndrom, sondern Autismus-Spektrum-Störung.

Privat mag man sich z.B. immer noch als "Aspie" oder "Atypischer Autist" o.Ä. definieren. Das kann das Gesetz einem nicht verbieten.

In den USA gibt es ja das Level-System. Level 1 Autism, Level 2 Autism und Level 3 Autism. Dieses System ist jedoch nur geringfügig besser. Es ist im Prinzip fast das selbe, nur in Grün. (Na ja, wenigstens ohne unseren Asperger, dem Nazi und Eugenikbefürworter aus dem 2. Weltkrieg.) Level 1 ist offensichtlich "schwacher" Autismus und Level 3 offensichtlich "starker" Autismus. Auch hier wird versucht, sinnlos zu differenzieren und etwas zu trennen, was man nicht untereinander trennen kann.

Es soll gut dafür sein, bei Ärzten und Krankenhäusern etc. direkt sagen zu können, was man alles braucht, um alles so reibungslos wie möglich hinter sich zu bringen. Doch die "Needs" von "Level 1" und Level 3" Autismus können an manchen Tagen und in manchen Situationen ja auch überlappen. Niemand wird immer nur in ein Level passen.

Nicht zu vergessen, dass sich sowas auch ändern kann - Davon ausgehend, wie viel Unterstützung, Akzeptanz etc. man von außen bekommt.

Im Internet habe ich bisher nur wenig Kritik gefunden, würde aber gerne weiter Meinung zu diesem Thema hören, weshalb ich mich entschieden habe meine Frage hier zu stellen.

Im Internet findet man immer Leute - Autisten und Nicht-Autisten -, die nicht mit der Zeit gehen können oder wollen. Wir Autisten sind häufig nicht so gut darin, mit Veränderungen klarzukommen. Bei mir kommt es immer stark auf verschiedene Aspekte an. Ich glaube, das Wichtigste ist es, dass man als Autist weiß, dass man sich noch immer mit seiner ursprünglichen Diagnose identifizieren darf. Man darf auch behaupten, man wäre "hochfunktional" oder das man "starken" Autismus hat. Wenn sich der Autismus für einen selber generell stark anfühlt, dann kann niemand einem das absprechen. Diese Definitionen sind nur ableistisch geprägt, wenn sie von Personen außerhalb benutzt werden. Zum Beispiel ist "hochfunktional" nur eine nette Umschreibung für "du wirst dein Leben lang Masking betreiben müssen, wir alle werden deine Needs ignorieren, du bist schlau und noch normal genug, was heißt, du bist noch etwas wert", während "low-functioning" ("unterfunktional"?) bedeutet "du bist dumm, du bist weniger wert, du wirst niemals etwas erreichen, du lebst in deiner eigenen Welt und wir können in deinem Beisein über dich lästern, weil du checkst eh nichts".

Und (auch wenn ich nicht glaube, dass das unbedingt einer der Gründe war, weshalb sich das änderte) welches ICD- oder DSM-Buch will schon gerne den Namen von einem Nazi drinstehen haben, welcher dutzende autistische Kinder zu seinen Zeiten als Kinderarzt töten ließ, da er dessen Leben und dessen möglichen Beitrag zur Gesellschaft als unnütz ansah. Die Asperger-Autisten waren "superschlaue und eiskalte Roboter", sozusagen, die durften schufften, aber Kinder kriegen? Deren "niederen" Gene verbreiten? Bloß nicht!

Übrigens - weil das leider sehr viele noch nicht wissen - waren weder Hans Asperger, noch Leo Kanner die ersten, die Autismus entdeckten/beschrieben: https://www.spectrumnews.org/features/deep-dive/history-forgot-woman-defined-autism/

Der Gedanke, Behinderte dürften oder sollten am besten keine Kinder bekommen, ist ja leider noch immer weit verbreitet. Imagine du sagst sowas 2023/2024 noch. Imagine du lebst noch in 1940. I-ma-gine.

Vielleicht ging mir die Veränderung auch nie sonderlich nah, da ich damals (2009 rum, als selbst der DSM-5 noch nicht draußen war) sowieso mit ASS diagnostiziert wurde, weil eine genaue Einteilung nicht gemacht werden konnte. Die Kinderpsychiaterin von damals schwankte zwischen Asperger-Syndrom und Atypischem Autismus. Sie wusste nur, dass ich definitiv Autistin war, aber einer genauen Unterform konnte sie mich nicht zuordnen.

Das heißt aber nicht, dass die Diagnosekriterien nun perfekt sind. Das liegt jedoch nicht an dem ICD-10/ICD-11-Update, sondern daran, dass sich viele Ärzte/Experten beispielsweise nicht mit Masking auskennen. Vielerorts haben es Frauen oder Transsexuelle, oder auch Menschen, die eine andere Hautfarbe als Weiß haben, schwer, vom System aufgefangen zu werden. Viele Ärzte/Experten sind noch immer nicht kompetent genug, um Autismus vollumfänglich zu verstehen und erkennen zu können. Zum Beispiel kann Autismus bei Mädchen/Frauen auch von außen erstmal weniger auffällig sein. Oder es wird behauptet, man hätte eine Soziale Angststörung oder Borderline o.Ä., obwohl das halt null oder nur bis zu einem gewissen Grad passt. Alles nur, um seinen "Patienten" bloß nicht den "Autismus-Stempel" aufzudrücken. Ich hab schon von Geschichten gehört, da wurden Leute wieder weggeschickt, weil sie Konversationen führen können, weil sie Augenkontakt halten können, weil sie übermäßig viel Empathie haben und so weiter und sofort. Wenn man nicht dem stereotypischem Bild vom kleinen, autistischen Jungen entspricht, schauen viele Ärzte nicht mehr genauer hin. Das ist halt genereller Ableismus und Inkompetenz. Das wird auch nicht plötzlich weg sein, wenn wir irgendwann den ICD-20 haben. Das muss anders angepackt werden und das ist ein wesentlich schwierigerer und längerer, generationenübergreifender Akt, als "einfach nur ein Buch zu aktualisieren".

Wie du also sicherlich herauslesen konntest, bin ich eine Befürworterin der Veränderung. Ich bin generell dafür, dass sowas viel schneller geht. Über 10 Jahre! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Manche Leute bauen in der Zeit ein Haus, heiraten, kriegen Kinder und werden CEO ihrer eigenen Millionenfirma. Aber na ja.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich bin diagnostizierte Autistin (Keine Selbstdiagnose)👽
Emely219 
Fragesteller
 06.01.2024, 19:53

Ich verstehe deine Befürchtung und bin mir durchaus bewusst, dass ASS ein sehr tiefgreifendes Thema ist, welches schwer in einer Facharbeit zu bearbeiten ist.

Ich selbst bin nicht diagnostiziert aber im Rahmen einer Psychotherapie steht eine ASS-Diagnose im Raum. Allerdings Arbeite ich als angehende Erzieherin in einer Schule für Kinder / Jugendliche mit Beeinträchtigung. In meiner Klasse habe ich 5 Kinder, die die Diagnose frühkindlicher Autismus haben. Das Thema meiner Facharbeit heißt „Ressourcenorientiertes begleiten und fördern von Kindern mit frühkindlichem Autismus". Dabei geht es vor allem darum einen Jungen mit Autismus im Alltag zu begleiten und ihn mit praktischen Methoden zu unterstützen.

Allerdings müssen auch theoretische Inhalte zum Thema ASS aufgezeigt werden und eben unteranderem die Begriffsdefinition. Dabei habe ich den Begriff aber nicht direkt definiert, da ich dies auch schwierig fand, da es sich ja um ein Spektrum handelt und jeder Mensch mit Autismus verschieden ist. Um die Begriffsdefinition etwas zu umgehen, habe ich den ICD-10 beschreiben, dass Autismus hier noch in Subtypen unterteilt wird und was die Diagnosekriterien sind. Dies habe ich genau so mit dem ICD-11 und dem DSM5 gemacht.

Persönlich finde ich wie auch du geschrieben hast, dass die unterschiedlichen Formen nur schwer zu unterscheiden sind und finde daher gut, dass im ICD-11 nur noch von „Autismus-Spektrum-Störung" gesprochen wird.

Das Level-System der USA ist mir bekannt und daher rührt tatsächlich auch meine Frage, da ich in einem Buch gelesen habe, dass vor allem Asperger Autisten die Befürchtung haben, dass ihnen aufgrund der „milden" Form des Autismus nicht mehr die nötigen Therapieformen und Hilfen gewährleistet werden. Deshalb wollte ich gerne wissen, wie andere das mit dem ICD-11 sehen, um mir weitere Meinungen einzuholen.

Ich möchte mich auf jeden Fall bei dir für die umfangreiche Rückmeldung bedanken. Ich bin in vielen Punkten, die du aufgezählt hast genau deiner Meinung und mir liegt das Thema sehr am Herzen, da viele Menschen einfach nicht darüber bescheid wissen und nur die Klischees aus Fernsehsendungen etc. kennen.

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