Atmosphäre in Sonnenaufgang in Venedig (Gedicht)?
Wie würdet ihr die Atmosphäre in "Sonnenaufgang in Venedig" von Stefan Zweig beschreiben?
Hier das Gedicht:
Erwachende Glocken. – In allen Kanälen Flackt erst ein Schimmer, noch zitternd und matt, Und aus dem träumenden Dunkel schälen Sich schleichend die Linien der ewigen Stadt.
Sanft füllt sich der Himmel mit Farben und Klängen, Fernsilbern sind die Lagunen erhellt.- Die Glöckner läuten mit brennenden Strängen, Als rissen sie selbst den Tag in die Welt.
Und nun das erste flutende Dämmern! Wie Flaum von schwebenden Wolken rollt, Spannt sich von Turm zu Türmen das Hämmern Der Glocken, ein Netz von bebendem Gold.
Und schneller und heller. Ganz ungeheuer Bläht sich das Dämmern. – Da bauscht es und birst, Und Sonne stürzt wie fressendes Feuer Gierig sich weiter von First zu First.
Der Morgen taut nieder in goldenen Flocken, Und alle Dächer sind Glorie und Glast. Und nun erst halten die ruhelosen Glocken Auf ihren strahlenden Türmen Rast.
1 Antwort
In dem Gedicht „Sonnenaufgang in Venedig“ von Stefan Zweig wächst dem
Leser die Zeit in Form einer einzigartigen Dynamik des Lichtes
entgegen. Dass dieses Wachsen zum sichtbaren Ereignis wird, verdankt
sich allerdings nicht der reinen Bildlichkeit, wenn das Gedicht auch mit
der Überschrift die Kulisse vorgibt, in die sich Kanäle, Lagunen und
Dachansichten der ewigen Stadt widerstandslos fügen. Es ist
also nicht allein oder zuerst das Auge, das diesen Triumph des Lichtes
wahrnimmt. Noch bevor der Blick sich auf das erste Flackern richtet, hören wir: erwachende Glocken.
Es ist der Klang, der den Raum öffnet und das Tableau einer Stadt aus
der Vogelperspektive ins Dreidimensionale öffnet: Das Glockengeläut
dringt ins Ohr durch einen dem metrischen Empfinden nach forteilenden
Rhythmus, dessen Doppelsenkungen stellenweise auf einfache verkürzt
erscheinen; ein Kunstgriff, der jenen charakteristischen Zusammenklang
von Glocken abbildet, deren Läutefrequenzen sich zu einem Rhythmus mit
ständig wechselndem Schwerpunkt überlagern.
Das Erwachen der Stadt ist in Wirklichkeit das Erwachen des Lichts,
lediglich die Glöckner bevölkern die Szene, aber unsichtbar, hier leben
nur Klang und Licht.
Das Zusammenspiel dieser beiden Sinneseindrücke setzt im piano ein,
um sich über ein allmähliches crescendo bis hin zur Hymne der letzten
Strophe zu steigern. Da diese Steigerung sowohl auf semantischer als
auch auf lautlicher Ebene durchgeführt wird – vom matten Flackern über das flutende Dämmern bis hin zur berstenden, stürzenden, fressenden
Eigenschaft des Lichts – gibt es nahezu keinen Ansatzpunkt, von dem aus
die perfekte Harmonie von Form und Inhalt in diesem Gedicht zu
widerlegen wäre.