Warum sind auf einmal alle ab 14 Jährigen plötzlich schwul, lesbisch oder Bi?

11 Antworten

Es ist nicht so, dass der Anteil homo- oder bisexueller in der Bevölkerung gestiegen ist. Sie waren viel mehr schon immer da und die große LGBTIQ-Gemeinschaft macht vielleicht sogar den größten Anteil an der Gesellschaft überhaupt aus. Nur die allerwenigsten Menschen stehen wirklich ausschließlich auf ein Geschlecht, sind also streng hetero- oder homosexuell. Die meisten sind sicherlich bisexuell veranlagt, aber Bisexualität kann sehr viele Gesichter haben. Bi zu sein heißt schließlich nicht, dass man zu gleichen Teilen auf Männer wie Frauen stehen muss (man kann aber), viele (die meisten?) tendieren eher zum anderen Geschlecht, manche fühlen sich aber auch stärker zum eigenen Geschlecht hingezogen (bei manchen ist es sogar so, dass es auch schwanken kann und sie mal mehr das eine und dann wieder das andere Geschlecht bevorzugen). Viele, die sich sehr viel stärker zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen, bezeichnen sich selbst als heterosexuell, obwohl sie das streng genommen gar nicht sind. Auf der berühmten Kinsey-Skala, die die sexuelle Orientierung des Menschen in graduellen Abstufungen von 0 (ausschließlich heterosexuell) über 3 (gleichermaßen hetero- wie homosexuell) bis 6 (ausschließlich homosexuell) angibt, ordnen sich viele der "Heterosexuellen" bei 1 oder 2, also im bisexuellen Spektrum ein. In einer repräsentativen Umfrage von YouGov aus dem Jahr 2019 in Großbritannien bezeichneten sich beispielsweise nur 16 % der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren als bisexuell, die Mehrheit von 75 % stufte sich als heterosexuell ein. In der gleichen Umfrage ordneten sich aber die Probanden und Probandinnen auf der Kinsey-Skala mehrheitlich als bisexuell ein, nämlich (die Gruppen 1 bis 5 zusammen genommen) 48 % und der Anteil der ausschließlich Heterosexuellen sank auf nur noch 44 %. Vergleichbare Erhebungen hat YouGov auch in anderen Ländern gemacht, auch dort ist der Anteil der Bisexuellen überraschend hoch: in Deutschland waren es 2018 in der gleichen Altersgruppe 39 % (heterosexuell: 45 %), wobei aber auch 13 % die Angabe "keine Ahnung" machten und ein Teil von ihnen möglicherweise auch dem Bi-Spektrum zugerechnet werden dürfte. Sehr stark verallgemeinernd kann man also sagen, dass fast jeder zumindest leichte bisexuelle Tendenzen zeigt. Am Spruch "ein bisschen bi schadet nie" ist durchaus was dran. Diese Erkenntnis ist auch nicht unbedingt neu. Der Zoologe und Sexualwissenschaftler Alfred Kinesy stufte in seinen Kinsey-Reports bereits 1948 zwischen 90 % und 95 & der US-amerikanischen Bevölkerung als bisexuell ein.

Biologisch ergibt das auch durchaus einen Sinn. Wenn man das (Sexual)verhalten des Menschen mit dem seiner nächsten Verwandten, der Schimpansen (Pan troglodytes) und Bonobo (Pan paniscus) miteinander vergleicht, stellt man insbesondere mit dem Bonobo verblüffend viele Gemeinsamkeiten fest. Beim Bonobo ist, genau wie beim Menschen der Sex in höchstem Maß von seiner ursprünglichen Funktion, der Fortpflanzung, abgelöst. Bonobos praktizieren Sex nicht nur, wenn das Weibchen gerade seine fruchtbaren Tage hat, sondern weit darüber hinaus. Und gleichgeschlechtliche Handlungen sind insbesondere (aber nicht nur) zwischen Bonoboweibchen an der Tagesordnung. Insgesamt sind gut die Hälfte aller sexuellen Handlungen bei Bonobos Interaktionen mit einem gleichgeschlechtlichen Partner. Bei Bonobos dient Sex ganz offensichtlich zu mehr als nur zur Verbreitung der eigenen Gene. Sexualität ist bei Bonobos ein wichtiges Mittel, um Spannungen in der Gruppe zu vermeiden oder, wenn es zu Konflikten innerhalb der Gruppe gekommen ist, diese wieder beizulegen, sie praktizieren gewissermaßen "Versöhnungssex". Berücksichtigt man das, ist es geradezu logisch, dass dieses Verhalten gleichgeschlechtliche Handlungen unbedingt inkludiert - denn soziale Konflikte entstehen ja nicht nur zwischen Männchen und Weibchen, sondern auch zwischen Männchen und Männchen und zwischen Weibchen und Weibchen.
Beim Menschen ist Sex vielleicht sogar noch stärker von der Fortpflanzung unabhängig. Während beim Bonoboweibchen die Wahrscheinlichkeit des Eisprungs (Ovulation) noch durch die Brunstschwellung (das Anschwellen der Anogenitalregion mit einhergehender intensiver Rotfärbung) angezeigt wird, gibt es diese Auffälligkeit bei menschlichen Frauen nicht (allerdings zeigen auch Bonobos eine Tendenz zum Verbergen der fruchtbaren Phase, im Verlgeich mit Schimpansen ist die Dauer der Brunstschwellung nämlich viel länger und macht bis zu zwei Drittel des gesamten Zyklus aus). Die meisten Frauen können rein intuitiv gar nicht sagen, wann sie ihre fruchtbaren Tage haben und die Männer können es auch nicht erkennen. Wenn man den idealen Befruchtungszeitpunkt aber gar nicht erkennen kann und Sex vornehmlich praktiziert, wenn es gar nicht zu einer Befruchtung kommen kann, muss man annehmen, dass Sex auch bei den frühen Vorfahren des Menschen in ähnlicher Weise wie beim Bonobo zum Kitten sozialer Bindungen diente - und damit der Mensch neben den verschiedensten heterosexuellen auch homosexuelle Beziehungen mit den Mitgliedern seiner Gruppe unterhielt.

Interessant ist aber, dass es erst in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren wieder "salonfähig" wurde, sich zu seiner sexuellen Orientierung bekennen zu können. Das sah in der Vergangenheit leider anders aus, bis 1994 war laut Gesetz der schwule Sex sogar nach § 175 StGB strafbar und schwule Männer konnten, wenn sie Sex mit einem anderen Mann hatten, in ein Gefängnis gesperrt werden. In der ehemaligen DDR ist der so genannte "Schwulenparagraph" bereits 1989 (seit 1968 wurden in der DDR nur erwachsene Männer bestraft, die mit minderjährigen homosexuellen Sex praktiziert hatten) abgeschafft worden (praktisch trat er mit der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern sogar wieder in Kraft, der Wiedervereinigungsvertrag sah jedoch vor, dass § 175 hier nicht angewendet werden durfte), wobei anzumerken ist, dass Homosexuelle auch in der DDR gesellschaftlich tabuisiert waren. Die Urfassungen des "Schwulenparagraphen" reichen bis in die NS-Zeit ab 1933 zurück, erst zu jener Zeit wurde Homosexualität kriminalisiert und gesellschaftlich stark geächtet. Nach dem Krieg hatte man dies zunächst übernommen und erst schrittweise liberalisierte sich die Gesellschaft wieder.

Dabei hat es früher Zeiten in Europa gegeben, da war es quasi üblich, dass man nicht nur heterosexuell agierte. Die griechische und römische Antike etwa kann als durch und durch bisexuelle Epoche gelten. Gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen galten zu jener Zeit als völlig normal. Viele Mythen der griechischen Antike belegen das. Homer schildert in seiner Ilias beispielsweise die intensive Liebesbeziehung zwischen der Hauptfigur Achilles und seinem besten Freund Patroklos. Ein weiterer Mythos berichtet von Eos, der Götting der Morgenröte, die sich in Tithonos und Ganymed verliebte und davon, wie der Göttervater Zeus ihr den Ganymed schließlich raubte und zu seinem Mundschenk und Lustknaben machte. Die griechische Dichterin Sappho, die auf der Insel Lesbos lebte, besingt in ihren zahlreichen poetischen Werken die Liebe zwischen Frauen. Inwiefern sie selbst lesbisch lebte, ist allerdings nicht eindeutig überliefert. Auch der Mythos der Amazonen zeugt von der positiven Einstellung der alten Griechen homosexueller Lebensweisen gegenüber. Von diesen Kriegerinnen heißt es, dass sie der lesbischen Liebe fröhnten und heterosexuelle Verbindungen nur zur Zeugung neuer Kriegerinnen eingingen.
Auch römische Darstellungen zeugen davon, dass gleichgeschlechtliche Liebe zu jener Zeit gesellschaftlich nicht nur völlig normal, sondern weit verbreitet war. Mosaike aus dem untergegangenen Dorf Pompeii zeigen, dass Römer eine sehr lockere Einstellung zur Sexualität hatten und Homosexualität für sie nicht fremd war. Für viele Männer der gehobenen Schicht war es üblich, regelmäßig in Bordelle zu gehen (die ärmere Bevölkerung konnte sich diesen "Spaß" nicht leisten) und dort nicht nur mit weiblichen Huren zu verkehren, sondern sich auch regelmäßig Lustknaben in ihr Bett holten.
Diese durchaus positive Einstellung zu einer nicht-heterosexuellen Lebensweise änderte sich erst mit dem Aufkommen der monotheistischen Religionen, insbesondere mit der Verbreitung des Christentums in Europa. In dieser Religion wird Homosexualität als Sünde angesehen, wie überhaupt alles, was nicht im Dienste der Fortpflanzung steht, als sündhaftes Treiben gedeutet wird.
Allerdings muss man anmerken, dass die Tabuisierung der Homosexualität nicht ausschließlich ein Werk der Kirche ist. Überhaupt existieren die Begriffe "Homosexualität", "Heterosexualität" und "Bisexualität" erst seit vergleichsweise kurzer Zeit. Die Griechen und Römer mögen zwar bisexuell gelebt haben, als bi bezeichnet haben sie sich aber nicht. Erst ab etwa dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts (ab 1986) wurden diese Begriffe in ihrer heutigen Bedeutung geprägt. In einer Zeit also, als zunehmend das wissenschaftliche Prinzip in den Fokus der Gesellschaft rückte und der Mensch sich für die Erforschung der Psyche zu interessieren galt. Lange galt in der Psychologie Homosexualität als von der Norm abweichend und daher als psychische Krankheit. Etwa ab diesem Zeitpunkt wurde Homosexualität immer stärker tabuisiert, bis sie dann schließlich ab der NS-Zeit sogar als kriminell eingestuft wurde und unzählige Homosexuelle von den Nazis in Gefängnisse interniert oder in Konzentrationslagern genau wie Juden, Kommunisten, Dissidenten oder Behinderte umgebracht wurden. Von der Liste der psychischen Störungen und Erkrankungen wurde Homosexualität dann auch erst 1992 gestrichen.

Bis vor kurzem war man somit klug beraten, sich nicht zu seiner gleichgeschlechtlichen Neigung zu bekennen. Natürlich gab es beispielsweise in den 1960er und 1970er Jahren auch Homosexuelle - aber öffentlich konnten sie sich dazu einfach nicht bekennen. Entweder, weil sie dafür ins Gefängnis gemusst hätten oder aber zumindest, weil sie von der Gesellschaft ausgestoßen worden wären. Homosexuelle durften sich schlichtweg nicht als solche zu erkennen geben und mussten ihre Neigungen, wenn überhaupt, im Verborgenen ausleben. Viele gingen heterosexuelle Schein-Ehen ein, um nicht gesellschaftlich stigmatisiert zu werden, manche litten darunter sogar so sehr, dass sie Selbstmord begingen, weil sie dem Druck der Gesellschaft nicht standhalten konnten.

Glücklicherweise hat sich das inzwischen geändert und für die überwiegende Mehrheit der Menschen sind in der westlichen demokratischen Welt Homosexualität und Bisexualität genauso normal wie Heterosexualität und man kann heute ganz offen seine sexuelle Orientierung leben, ohne dafür geächtet zu werden. Aus diesem Grund fällt es auch gerade den jungen Leuten heute immer leichter, sich als bi oder lesbisch oder schwul zu outen.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich bin bisexuell. 💕💜💙
Lashysplashy  07.06.2020, 14:56

Alter du musst wirklich ein Buch schreiben, dass ist der längste Text das ich bisher gelesen habe!! 🔥

10
Lashysplashy  08.06.2020, 17:28

WAS?! Okay now I’m impressed🔥😯

2

Ich würde eher sagen sie trauen sich jetzt mehr es zuzugehen. Und auch dazu zu zu stehen, anstatt es zu verstecken oder sich zu verstellen. Vielleicht ist es auch nur eine Phase aber das wäre ja auch nicht schlimm

Natürlich gibt es sicher auch welche die damit nur anders sein wollen und damit versuchen Aufmerksamkeit zu bekommen, aber das gibt es mit allen Dingen nicht nur mit Sexualität. Und wer die Personen länger kennt wird das meist auch merken

Als ich kann das so nicht bezeugen. Ich gehe in die 12 Klasse und in meinem Jahrgang ist nur einer nicht hetero und zwar ich (bisexuell/biromantisch - asexuell).

Wenn ich den Jahrgang meines Bruders ansehe dann ist da auch keiner Nicht Hetero. Er ist in der 9. Klasse.

Ich habe nicht das Gefühl das es mehr werden.

Was ich aber schon glaube ist aber das rein heterosexuelle Menschen generell eher seltener sind als man denkt. Ich denke viele Menschen haben eine leichte Bi-Neigung und jetzt wo das gesellschaftlich besser anerkannt wird ( ich kenne in meinem Umfeld so gut wie keinen der was gegen Homo Bi oder Pansexuelle hat) kann man dies auch besser ausleben.

Sie trauen sich jetzt wahrscheinlich mehr, sich zu outen. Da man in einer Phase ist, in der man sich entwickelt und auch langsam die Sxualität erforscht, probieren sich viele auch aus;)

alle ??

ICh glaube es fallen dir einfach die auf, die es sind. Außerdem sammeln manche auch erfahrungen, die nicht unbedingt die Dauer-Präferenz bedeuten.