Wieso gilt der Neanderthaler als eigene Art?

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Ob der Neanderthaler eine eigenständige Art (Homo neanderthalensis) oder eine Unterart des modernen Menschen (Homo sapiens neanderthalensis) repräsentiert, wurde und wird kontrovers diskutiert. Für beide Sichtweisen gibt es gute (und richtige) Gründe, weshalb nach wie vor in Wissenschaftskreisen unterschiedliche Lehrmeinungen über die Einordnung des Neanderthalers vertreten werden.

Das hängt zum ersten stark davon ab, welches Artkonzept man der Zuordnung zugrunde legt. Das biologische Artkonzept definiert eine Art als eine Gemeinschaft von Individuen, welche untereinander uneingeschränkt fortpflanzungsfähig sind. Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und seine Forschungsgruppe haben in jüngeren Studien gezeigt, dass der anatomisch moderne Mensch (Homo (sapiens) sapiens) bei seiner Auswanderung von Afrika nach Eurasien mindestens zwei Mal auf Neanderthaler traf und es dabei zur Hybridisierung und somit zu einem Genfluss zwischen den beiden Linien gekommen ist. Bis heute weisen die außerafrikanischen menschlichen Populationen Spuren dieser Begegnungen auf: rund 2 % unseres Genoms haben wir dem Neanderthaler zu verdanken. Nach den Kriterien des biologischen Artkonzepts wäre der Neanderthaler somit eine Unterart der gleichen Art wie der anatomisch moderne Mensch, da beide sich erfolgreich miteinander paaren konnten. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass die Fortpflanzungsfähigkeit bei männlichen Nachkommen eingeschränkt gewesen sein könnte. Ähnlich verhält es sich mit dem Denisova-Menschen, einem nahen Verwandten des Neanderthalers. Auch seine Zuordnung als eigenständige Art oder als Unterart ist nicht geklärt - weshalb die Autoren der Erstbeschreibung übrigens ausdrücklich auf die Vergabe eines wissenschaftlichen Namens verzichteten und bis heute noch kein allgemein gültiger Name gefunden wurde.

Zur gleichen Schlussfolgerung, Neanderthaler als Unterart des Homo sapiens, kommt man, wenn man das genetische Artkonzept der Bewertung zugrunde legt, also den Anteil der genetischen Übereinstimmung misst. Das Genom anatomisch moderner Menschen und der Neanderthaler unterscheidet sich kaum voneinander. Etwa 0.5 % beträgt der Unterschied, was innerhalb der Variationsbreite des modernen Menschen liegt. Auch diese Sichtweise spricht also klar für die Vereinigung der Neanderthaler und der heutigen Menschen als Angehörige einer gemeinsamen Art.

Anders sieht es aus, wenn man das phylogenetische Artkonzept zugrunde legt, welches gegenwärtig eines der am stärksten verwendeten Artkonzepte ist. Das phylogenetische Artkonzept versteht eine Art als eine Gruppe von Individuen mit einer gmeinsamen und eigenständigen Entwicklungslinie. Sowohl der Neanderthaler als auch der anatomisch moderne Mensch entwickelten sich in Afrika aus dem Homo erectus (oft werden diese Vorfahren einer eigenen Art, Homo heidelbergensis, zugeordnet). Das geschah aber zu unterschiedlichen Zeiten und unabhängig voneinander. Zuerst kam es zur Abtrennung der Neanderthaler-Linie vom Homo erectus. Er entwickelte sich demnach lange Zeit unabhängig von der zweiten menschlichen Entwicklungslinie, nämlich unserer eigenen. Die spaltete sich ebenfalls vom Homo erectus ab, aber etwas später als die Neanderthaler-Linie. Weil es also zwei unabhängig voneinander entstandene Evolutionslinien gibt, stellen nach phylogenetischem Artkonzept Homo sapiens und Neanderthaler getrennte Arten dar.
Ein anderes Artkonzept, das Artkonzept der allgemeinen Entwicklungslinie (general lineage) sieht im Neanderthaler ebenfalls eine eigenständige Art. Es ist quasi eine Weiterführung des phylogenetischen Artkonzepts, welche auch das biologische Artkonzept berücksichtigt. Es erkennt Arten dann als eigenständig an, wenn es sich im Sinn des phylogenetischen Konzepts um eine eigenständige Abstammungslinie handelt, erkennt aber an, dass es zu gelegentlichen Verschmelzungen mit anderen solchen Linien (Genfluss) kommen kann. Eine Art ist demnach eigenständig, solange dadurch trotz Genfluss die allgemeine Eigenständigkeit der Linie erhalten bleibt.
Manche Forscher ordnen die gemeinsamen Vorfahren von modernen Menschen und Neanderthalern aber auch schon dem Homo sapiens zu und bezeichnen diese Vorfahren dann als "archaischen Homo sapiens", was dann wieder für eine Einordnung in eine gemeinsame Art spräche.

Hinzu kommt, dass es innerhalb der Phylogenetiker zwei verschiedene "Schulen" gibt: die Splitter und die Lumper. Splitter legen besonder großen Wert auf die Unterschiede, entsprechend gering ist die Toleranz für die innerartliche Variationsbreite. Sie teilen (splitten) deshalb gerne Taxa schon bei geringen Abweichungen in verschiedene Arten auf. Kritiker bemängeln, dass die konsequente Durchführung dieser Praxis letztendlich aber dazu führen müsse, dass jedes einzelne Individuum eine eigene Art sein müsse, da es bei genügend kleiner Auflösung genug Unterschiede zu anderen Individuen gibt und plötzlich jedes Individuum eine eigenständige Linie repräsentiert. Bemängelt wird auch häufig, dass das ganze System dadurch inflationär aufgebläht würde und der Naturschutz enorm komplizierter wird. Wenn beispielsweise eine bedrohte Art durch Splitting in zwei Arten aufgetrennt wird, gibt es nun zwei bedrohte Arten, die einzeln voneinander gemanaget werden müssen. Unter Umständen rutschen die beiden Arten sogar in der Gefährung noch weiter ab und sind dann sogar stark bedroht, da ja die Populationen deutlich kleiner sind und das Verbreitungsgebiet stark schrumpft.
Lumper hingegen legen verstärkt Wert auf Gemeinsamkeiten. Sie akzeptieren bei der Einordnung von Taxa deshalb eine entsprechend größere Variationsbreite und fassen den Artbegriff entsprechend weiter.
Ein Beispiel aus der jüngeren Zeit für heftige Kontroversen zwischen Lumpern und Splittern ist z. B. eine Revision der Bovidae (Hornträger), bei der sich die Artenzahl nahezu verdoppeln würde, weil durch Splitting viele ehemals als Unterarten klassifizierte Populationen in den Rang einer eigenen Art gehoben würden. Ein weiteres Beispiel ist die Steppengiraffe (Giraffa camelopardalis), die je nach Lehrmeinung entweder als eine Art mit bis zu acht verschiedenen Unterarten geführt wird oder aus bis zu vier eigenständigen Arten (Nord- und Südgiraffe, sowie Nethgiraffe und Massai-Giraffe) bestünde.

Entsprechend gibt es auch bei der Einteilung unterschiedliche Lehrmeinungen darüber, wie viele verschiedene Arten es gibt. Es hängt eben ganz davon ab, welcher "Schule" der jeweilige Systematiker angehört, den man fragt. Allein bei der Gattung Homo reicht die Spannbreite der "validen" Arten von drei bis hin zu zehn. Hier eine nachfolgende Auflistung. Vor dem Doppelpunkt jeweils die Einteilung eines Lumpers, die danach aufgeführten Arten repräsentieren die Unterteilung, die ein Splitter vornehmen würde:

  • H. habilis: H. habilis, H. rudolfiensis
  • Homo erectus: H. erectus, H. ergaster, H. heidelbergensis, H. antecessor, H. floresiensis ("Hobbit"-Mensch)
  • Homo sapiens: Homo sapiens, H. neanderthalensis, Denisova-Mensch

Solange man es gut begründet, sind beide Einteilungen "richtig", also sowohl die Einordnung von Neanderthaler und modernem Mensch in eine gemeinsame Art wie auch die Auftrennung in verschiedene Spezies.
Fragt man mich nach meiner ganz persönlichen Meinung, ordne ich mich aber ganz klar den Lumpern zu. Es gibt einfach eine extrem große Schnittmenge zwischen Neanderthalern und uns und die Unterschiede reichen für mein Verständnis nicht aus, um eine Auftrennung zu rechtfertigen. Es gibt eben weit mehr, was uns und Neanderthaler verbindet als uns trennt. Übrigens nicht nur anatomisch oder molekularbiologisch, sondern auch kulturell. Es gibt Hinweise darauf, dass Neanderthaler sprechen konnten (sie haben z. B. die gleiche Variante des "Sprachgens" wie wir), sie waren kreativ (man vermutet, dass die mit rund 64 000 Jahren ältesten Höhlenmalereien in Europa von Neanderthalern angefertigt wurden und nicht, wie die bekannten deutlich jüngeren Malereien in Lascaux oder Altamira, von modernen Menschen) und sie bestatteten ihre Toten mit Grabbeigaben, kannten also einen Totenkult. Sie waren uns somit also auch geistig ebenbürtig und keineswegs primitiver als wir. Gerade deshalb ist die Frage spannend, weshalb vor rund 30 000 die Neanderthaler ausstarben und wir nicht. Ging der Neanderthaler schrittweise durch Vermischung im modernen Menschen auf? Wurde er von uns verdrängt? War er weniger anpassungsfähig als sich das Klima veränderte? Oder haben ihn die modernen Menschen systematisch ausgerottet und somit quasi den ersten Genozid in der Geschichte des Menschen begangen? Vermutungen gibt es viele, aber konkrete Vorstellungen davon gibt es noch nicht - die Anthropologie bleibt also spannend und wird uns noch viele Überraschungen bieten.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig
Alien94 
Fragesteller
 10.04.2020, 18:54

Vielen Dank für deine ausführliche Antwort, hat mir echt weitergeholfen :)

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stowaway  03.05.2020, 17:52
@Alien94

Super - erstklassige Zusammenfassung der menschlichen Entwicklung!

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Der Neanderthaler ist aus einem Seitenzweig unserer Vorfahren hervorgegangen. Er ist somit kein direkter Vorfahr an sich, sondern eine nah verwandte Art. So ungefähr wie bei Schimpansen und Bonobos.

Als sich Homo Sapiens und Homo Neanderthaliensis in Europa dann trafen, gab es auch Vermischungen. Deswegen haben Europäer, Asiaten und Indianer Neanderthalergene in sich, Afrikaner aber nicht.

Buhujo  07.04.2020, 19:33

Aber Neandertalergene sind bei Europäern in nicht zu übersehender Anzahl vorhanden. 2- über 4%!

Das ist ein Beleg dafür dass eine Vermischung stattgefunden haben muss.

Mit anderen Menschenarten ist es ähnlich.

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Buhujo  07.04.2020, 21:24
@Weissenegger

Eben. Da gehen Begrifflichkeiten durcheinander. Aber eigentlich sollte man das hinkriegen. Und auch die Vorstellung ein Neandertaler sei ein tumber Affenmensch gewesen ist ja längst widerlegt.

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Weissenegger  07.04.2020, 21:32
@Buhujo

Der Neanderthaler war, so weit ich weiß, ganz und gar nicht blöd! :-)

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Buhujo  07.04.2020, 21:42
@Weissenegger

Eben, und das Hirnvolumen war sogar größer als das des Homosapiens.

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Weissenegger  07.04.2020, 21:43
@Buhujo

Soweit ich weiß, würde ein Neander in der U-Bahn gar nicht auffallen, zumindest wenn er modern gekleidet wäre.

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Buhujo  07.04.2020, 21:46
@Weissenegger

Lohnt da mal neuere plastische Rekonstruktionen anzusehen. Ähnliche Gesichter gibt es durchaus auch heute.

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vascones  08.04.2020, 16:52

Der Beweis, dass der Neandertaler sich mit dem Menschen vermischte, ist nicht erbracht. Wenn man die Genome von jeweils nur einem Menschen von jedem Kontinent betrachtet, dann hat man noch nichts bewiesen. Die Beweisführung von Svante Pääbo, der ja hier zitiert wird, ist nicht von allen Genetikern anerkannt! Auf jeden Fall gibt es unter den bisher abertausenden bereits getesteten Mitochondrien DNS vom Menschen nicht eine Probe, die sich mit den bisher getesteten 8 (?) Neandertaler MtDNS deckt. Also ist noch nichts bewiesen.

Kontakte sind zwischen beiden Arten in der Archäologie nahegelegt, ob es aber Paarungen gab, dazu gibt die Wissenschaft noch nichts her. Siehe auch: "Das Werden der Völker in Europa", Autorin: Elisabeth Hamel.

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Weissenegger  08.04.2020, 17:57
@vascones

Hm, komisch: In der Wissenschaft gilt das inzwischen als bewiesen, zumal man inzwischen weiß, dass wir Sachen wie z. B. nichtschwarze, glatte Haare von den Neanderthalern geerbt haben.

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"Art" ist ein etwas schwammiger Begriff, weil er sowohl über morphologische als auch biologisch-reproduktive Unterschiede definiert werden kann.

Morphologisch betrachtet (Phänotyp ober auch der bekannte Genotyp) gibt es genug eindeutige Klassifizierungsmerkmale um den Neanderthaler als eigene Art zu definieren.

Allerdings zeigen detaillierte Genomuntersuchungen, dass es eben doch zu fruchtbaren Kreuzungen gekommen ist auch wenn die männlichen Mischlinge anscheinend weniger fruchtbar waren und die Gesamtfitness aller Mischlinge reduziert war.

Also spricht nichts gegen einen eigenen Artbegriff mit dem Verständnis, dass die Verwandschaft zwischen den Arten sehr eng war und ein gewisses Maß an Kreuzung erlaubt hat.

Alien94 
Fragesteller
 07.04.2020, 23:16

Ok, also ist die übliche Artdefinition über fruchtbare Nachkommen gar nicht so eindeutig? Weil es anscheinend vorkommen kann, dass manche Nachkommen fruchtbar sind und manche nicht oder wie?

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PeterJohann  08.04.2020, 09:56
@Alien94

Es ist ein gutes Ausschlusskriterium zur Artdefinition, aber bei noch sehr nah verwandten Entwicklungslinien eben nicht eindeutig. Neanderthaler und Sapiens sind ja erst vor relativ kurzer Zeit aus dem Erectus hervorgegangen weswegen eine relativ eingeschränkte Kreuzung möglich war.

Es wurde auch schon vermutet, dass aufgrund der bei beiden Entwicklungslinien vorherrschenden sozialen Gemeinschaften, die auch Schwächere, Kranke, Verletzte mit durchschleppte, die Kreuzungen trotz diverser Defizite weiter in das Genom eingetragen werden konnten.

Letztlich ist der eineindeutige Artbegriff, soweit es die überlebende Homo Entwicklungslinie angeht, auch kein wirklich notwendiges Kriterium, da nur das wesentlich komplexere Gesamtbild relevant ist.

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Sie gehören zur Familie sind aber eine eigenständige Art.

Weil es ja durchaus verschiedene Arten gibt die sich trotzdem noch kreuzen lassen. Das fängt beim Maultier/Maulesel an geht über die Zesel weiter und landet dann bei Liger und co.

Alien94 
Fragesteller
 07.04.2020, 21:01

Ja, aber da sind die Nachkommen unfruchtbar. Das ist der entscheidende Punkt in der Artdefinition.

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Seefuchs  07.04.2020, 22:24
@Alien94

Diverse insbesondere Weibchen sind noch fruchtbar und können so einen Teil Ihrer Gene weiter verdünnt in den Pool der jeweiligen Art einbringen. Und klar sind diese Hybride keine Arten aber unterschiedliche Arten können sich vermischen.

Wobei bei Pizzlys aufgrund der nähe sogar die Nachkommen fruchtbar sind.

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Ich habe das auch noch so gelernt, dass Maultiere (Nachkommen von Pferd und Esel) keine Nachkommen haben können, das scheint aber nicht absolut zu sein. Es gibt schon mal fruchtbare Stuten, siehe hier:

https://de.wikipedia.org/wiki/Maultier#Zucht

Selbst wenn die Nachkommen von Neandertalern und modernen Menschen zumeist unfruchtbar waren, es mag Ausnahmen gegeben haben. Und die maximale "Beimischung" von ca. 4 % Neandertaler-Erbgut (meist wohl noch weniger) bei uns ist ja nicht sonderlich hoch.

Insofern ist der Artbegriff schon nicht so falsch.

Alien94 
Fragesteller
 07.04.2020, 23:09

Es kommt aber eben nur gelegentlich vor bei Maultieren.

Weißt du denn sicher, dass die Nachkommen von H. s. und H. n. zumeist unfruchtbar waren? Wenn ja, woher?

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