Ist der Homo Neandertalensis eine Unterart des Homo Sapiens?

6 Antworten

Heute werden Neandertaler und moderner Mensch als zwei unterschiedliche Arten geführt (Homo neanderthalensis und H. sapiens), zwischen denen allerdings Genfluss stattgefunden hat.

Die Ansicht, dass beide Formen Unterarten der gleichen Art sind (Homo sapiens neanderthalensis und Homo sapiens sapiens) gilt hingegen als veraltet, weil sie morphologisch klar unterscheidbar sind und sich beide unabhängig voneinander aus dem Homo erectus entwickelt haben.

Der Neanderthaler wird entweder als eigene Spezies (Homo neanderthalensis) geführt oder als Unterart des Homo sapiens (Homo sapiens neanderthalensis), der anatomisch moderne Mensch wird in dem Fall als Unterart Homo sapiens sapiens zur selben Art gestellt. Welche dieser beiden taxonomischen Einordnungen richtig ist, ist Ansichtssache und hängt u.a. davon ab, welcher der beiden Richtungen der Taxonomie, der lumping taxonomy oder der splitting taxonomy, man angehört und welches Artkonzept (biologische oder phylogenetische Art) man zugrunde legt. Beide Sichtweisen sind begründbar, ein definitives "Richtig" oder "Falsch" gibt es daher nicht.

Folgt man dem biologischen Artkonzept, gehören anatomisch moderne Menschen und Neanderthaler zur selben Art. Eine Biospezies definiert sich als Fortpflanzungsgemeinschaft, also als eine Gemeinschaft von Individuen, die sich untereinander uneingeschränkt fortpflanzen können. Dem Paläogenetiker Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und seinem Team ist es zu verdanken, dass das Genom des Neanderthalers nahezu vollständig entschlüsselt werden konnte; für diese Leistung wurde Pääbo 2022 mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt. Mit seiner Forschung konnte er belegen, dass anatomisch moderne Menschen bei ihrer Ankunft in Eurasien auf Neanderthaler trafen und sich mit ihnen fortpflanzten. Spuren von Neanderthalergenen finden sich bis heute im Genom aller nichtafrikanischen Menschen. In Europa beträgt der Anteil von Neanderthalererbgut am Genom heutiger Menschen immerhin noch rund zwei Prozent. Viele der vom Neanderthaler geerbten Genvarianten stehen im Zusammenhang mit der Textur der Haare und der Haut und halfen dem anatomisch modernen Menschen wahrscheinlich dabei, mit dem rauen Klima in Eurasien besser klar zu kommen. Svante Pääbos Forschungsgruppe konnte kürzlich nachweisen, dass eine genetische Variante, die zu einem höheren Risiko schwer an Covid-19 zu erkranken führt, ebenfalls ursprünglich vom Neanderthaler kommt. Auch ein Genfluss in die andere Richtung, vom anatomisch modernen Menschen zum Neanderthaler, ist nachgewiesen worden, z. B. die Introgression des Y-Chromosoms des anatomisch modernen Menschen vor spätestens 100 000 Jahren ins Neanderthalergenom, auch die mitochondriale DNA später Neanderthaler stammte vom anatomisch modernen Menschen und hat die ursprünglichen Neanderthaler-Mitogenome quasi "ersetzt". Dass anatomisch moderne Menschen und Neanderthaler gemeinsame Nachkommen zeugen konnten, spricht deutlich für die Zugehörigkeit beider zu einer gemeinsamen Art.

Insgesamt unterscheiden Neanderthaler sich genetisch von anatomisch modernen Menschen kaum. Der Neanderthaler liegt sogar innerhalb der genetischen Variationsbreite moderner Menschen; auch das spricht für eine Zuordnung zu einer einzigen Art. Hinzu kommt, dass Neanderthaler kulturell dem anatomisch modernen Menschen ebenbürtig waren. Neanderthaler besaßen dieselbe Variante des "Sprachgens" FOXP2, damit ist belegt, dass sie sprechen konnten. Wir müssen sogar annehmen, dass die Neanderthaler die ersten Schöpfer von Höhlenmalereien in Europa waren. Die ältesten Höhlenbildnisse stammen nämlich neueren Untersuchungen zufolge aus einer Zeit, als der anatomisch moderne Mensch noch gar nicht dort lebte. Sehr wahrscheinlich bestatteten Neanderthaler ihre Toten mit Ritualen - all diese kulturellen Gemeinsamkeiten sprechen für eine Zugehörigkeit zu einer Art.

Das phylogenetische Artkonzept definiert eine Art als Individuengemeinschaft mit einer gemeinsamen Abstammungsgeschichte (Phylogenie). Der Fossilienbericht belegt, dass anatomisch moderne Menschen und Neanderthaler unabhängigen Abstammungslinien angehören, die sich zeitlich voneinander unterscheiden. Als Vorfahr beider gilt der Homo erectus. Diese Art ist auch die erste Art der Gattung Homo, die Afrika verlassen hat und sich nach Eurasien ausgebreitet hat. Nachfahren dieser ersten Auswanderungswelle von Frühmenschen (Out of Africa I) waren z. B. auch die Flores-Menschen ("Hobbits"), die manchmal als eigene Art (Homo floresiensis) gezählt werden, heute aber meist zum Homo erectus gerechnet werden. Auch die sog. Superarchaier waren wohl Nachfahren der ersten Auswanderungswelle des Homo erectus.

Vor etwa 900 000 bis 600 000 Jahren verließ eine weitere Population von Homo erectus Afrika und wanderte nach Eurasien aus (Out of Africa II). Aus dieser Population ging zum einen über zeitlich aufeinander folgende Zwischenstadien (Chronospezies) wie dem Homo heidelbergensis der Neanderthaler hervor. In Asien zweigte von dieser Linie der zweiten Auswanderungswelle außerdem der Denisova-Mensch ab. Erst vor wenigen Jahren konnte durch Genanalysen gezeigt werden, dass die Menschen der zweiten Auswanderungswelle in Europa auf die Superarchaier trafen und sich mit ihnen genetisch vermischten (was die berechtigte Frage aufwirft, ob demnach nicht auch der Homo erectus eigentlich als Unterart von Homo sapiens geführt werden müsste).

Aus der in Afrika verbliebenen Population von Homo erectus ging vor etwa 315 000 Jahren der anatomisch moderne Mensch hervor. Anatomisch moderne Menschen versuchten vermutlich mehrfach ebenfalls nach Eurasien auszuwandern. Ein erster Versuch vor etwa 210 000 Jahren über Südeuropa schlug fehl. Erst später gelang es dem anatomisch modernen Menschen in Eurasien Fuß zu fassen (Out of Africa III). Dabei kam es dann zum Aufeinandertreffen mit Neanderthalern (und Denisovanern) mit den oben bereits beschriebenen Vermischungen.

Folgt man dem phylogenetischen Artkonzept, können Neanderthaler und anatomisch moderne Menschen als zu verschiedenen Arten gerechnet werden, weil sie zwei verschiedenen Zweigen der menschlichen Abstammungslinie angehören, die zeitlich unabhängig voneinander entstanden. Aber das phylogenetische Artkonzept hat das große Problem, dass es ein äußerst willkürliches Konzept ist. Es ist nicht möglich, eine eindeutige Grenze zu ziehen, bei der zwei Abstammungslinien als eigenständig gelten können bzw. müssen. Es ist also weder möglich festzulegen, wie lange zwei Populationen voneinander getrennt sein müssen, um als eigenständige Arten zu gelten (man könnte 100 000 Jahre festlegen, ebenso gut aber auch 1 Mio. Jahre), noch wie stark sie sich genetisch voneinander unterscheiden müssen; man könnte als Grenze z. B. 5 % Unterschied in der DNA-Sequenz festlegen, aber möglich wären auch 1 %, 3 % oder 10 %. Die Interpretation phylogenetischer Daten unterliegt also dem Ermessensspielraum und ist somit eine sehr subjektive Ansichtssache.

Bei der Interpretation phylogenetischer Daten spalten sich die Taxonomen in zwei große Lager. Die sog. Splitter betonen verstärkt die Unterschiede, trennen also bereits bei kleinen Unterschieden Linien als eigenständige Arten ab. Die Splitter betrachten Neanderthaler somit als eine eigene Art und gestehen auch den verschiedenen zeitlich aufeinander folgenden Zwischenstufen einen jeweils eigenen Artstatus zu, z. B. dem Homo heidelbergensis, Homo antecessor usw. Tatsächlich waren und sind die Übergänge zwischen den Entwicklungsstadien jedoch fließend. Außerdem hieße es, dass man bei konsequenter Anwendung der splitting taxonomy jedes einzelne Individuum in den Rang einer eigenen Art erheben müsste, weil jedes Individuum genetisch einzigartige Merkmale hat, die eine Abtrennung als unabhängige Abstammungslinie rechtfertigen würden.

Lumper betonen auf der anderen Seite daher verstärkt die Gemeinsamkeiten und gestehen einer Art eine größere Variationsbreite zu. Demnach kann die Abstammungsgeschichte des Menschen auch in einer (zumindest die Artzahl betreffend) sehr viel einfacheren Lesart interpretiert werden, die nur drei "gute" Homo-Arten unterscheidet: Homo habilis, Homo erectus und Homo sapiens. Auf die Spitze getrieben könnte man sogar alle Vertreter der Gattung zu einer Art stellen, weil die Übergänge eben stets fließend waren.

Der lumping taxonomy zufolge entstand (nachdem der Homo erectus nach Eurasien ausgewandert war) aus dessen in Afrika verbliebener Population der sog. Archaische Homo sapiens. Von diesem wanderte vor 600 000 Jahren ein Teill nach Eurasien aus, wo aus ihm die Neanderthaler hervorgingen (und die Denisovaner). Aus der in Afrika verbliebenen Population des Archaischen Homo sapiens entstand dann graduell der anatomisch moderne Mensch (Homo sapiens sapiens). Dieser wanderte später ebenfalls (rund 100 TYA) zunächst in den Nahen Osten aus (nachdem ein erster Vorstoß in Richtung Südeuropa wie oben erwähnt misslang), von dort aus die Küste entlang nach Indien und Südostasien (70 TYA). Von Südostasien aus gelang vor etwa 50 000 Jahren der Sprung nach Australien. Vor 25 000 Jahren wurde Nordasien besiedelt. Europa wurde erst vor rund 40 000 Jahren (diesmal erfolgreich, ungefähr zu dieser Zeit verdrängte er den Neanderthaler vollständig) erreicht, zuletzt vor etwa 15 000 Jahren über Beringia Amerika.

Ob man Neanderthaler nun als eigenständige Art auffasst oder als Angehörige unserer Spezies, beides ist möglich. Mir persönlich gefällt die Einordnung der Lumper besser; weil sie übersichtlicher ist und deutlicher klar macht, dass Neanderthaler keineswegs primitiver als anatomisch moderne Menschen waren.

Svante Pääbo drückte es in einem Interview mit der Zeitschrift Spektrum, gefragt nach seiner Ansicht zur Taxonomie des Neanderthalers, so aus:

"Ehrlich gesagt vermeide ich diese Frage lieber. Ich empfinde das als eine akademische, sterile Diskussion. Es gibt keine Artdefinition, die für alle Gruppen von Tieren oder Hominiden zutrifft. (...) Es ist typisch menschlich, alles in Fächer einordnen zu wollen und Arten von Unterarten zu trennen. Für mich ist viel interessanter: Wie haben sich unsere Vorfahren verhalten? Was hat uns voneinander unterschieden? Wie viel haben wir gemeinsam? Ob dann irgendein Gelehrter das Art oder Unterart nennen möchte, ist mir eigentlich egal."
Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

Der Neandertaler ist ein eigener Vertreter der Gattung Homo.

Der Neandertaler war eine parallele Entwicklung in Europa, aus dem Homo Errectus, während sich in Afrika der Homo Sapiens entwickelt hat. Als sich der Homo Sapiens über die ganze Erde ausgebreitet hat, ist der Neandertaler ausgestorben.

Der wissenschaftliche Namen lautet "Homo sapiens neanderthalensis". Er ist als kein Vorfahr, sondern ein "Vetter" des "homo sapiens sapiens"