Worin liegt der Unterschied zwischen den Homo Sapiens und den Homo Sapiens Sapiens?

3 Antworten

In der phylogenetischen Systematik gibt es oftmals mehrere Sichtweisen über die Anzahl der Arten, die man unterscheiden kann bzw. sollte. Anhänger der sog. Lumping Taxonomy legen mehr Wert auf Gemeinsamkeiten. Sie fassen den Artbegriff weiter auf und unterscheiden deshalb weniger Arten, die dafür in ihren Merkmalen variabler sein können. Anhänger der Splitting Taxonomy legen größeren Wert auf die Unterschiede. Für sie reichen deshalb schon kleine und teils sogar kleinste Unterschiede, um Populationen als eigenständige Spezies zu klassifizieren. Ein Beispiel: die Lumper rechnen alle Giraffen zu einer einzigen Art, der Steppengiraffe (Giraffa camelopardalis). Im Zoo können alle Unterarten der Giraffe problemlos miteinander gekreuzt werden, weshalb sie nach dem biologischen Artkonzept als zur selben Art gehörend klassifiziert werden können. Splitter wollen neuerdings aber bis zu vier verschiedene Giraffenarten unterscheiden: die Nord-Giraffe (Giraffa camelopardalis), die Süd-Giraffe (Giraffa giraffa), die Massai- oder Weinlaub-Giraffe (Giraffa tippelskirchi) und die Netz-Giraffe (Giraffa reticulata). Sie stützen sich darauf, dass die Steppengiraffe sich anhand von DNA-Sequenzvergleichen in vier deutlich voneinander getrennte Linien aufteilen würde.

Auch bei der Gattung Homo herrscht nach wie vor Uneinigkeit darüber, wie viele verschiedene Arten man unterscheiden soll. Lumper unterscheiden lediglich drei Arten: Homo habilis, Homo erectus und Homo sapiens. Nach dieser Taxonomie gehört beispielsweise der Neanderthaler als Unterart Homo sapiens neanderthalensis zur Art Homo sapiens. Der anatomisch moderne Mensch, also die einzig verbliebene Menschenform, der auch du und ich amgehören, wird dann als Unterart Homo sapiens sapiens genannt. Dafür spricht, dass anatomisch moderne Menschen und Neanderthaler miteinander Nachkommen zeugten, wie genetische Untersuchungen zeigten. Bis heute trägt jeder Nichtafrikaner etwa 1 bis 2 % an Genvarianten in sich, die ursprünglich vom Neanderthaler stammen.

Splitter wiederum klassifizieren die Neanderthaler als eigenständige Art, Homo neanderthalensis. Splitter unterscheiden bis zu 14 verschiedene Homo-Arten, darunter z. B. Homo rudolfensis, Homo heidelbergensis, Homo floresiensis, Homo naledi, Homo ergaster oder Homo antecessor. Nach dieser Systematik gehört nur der vor etwa 315 000 Jahren entstandene anatomisch moderne Mensch zur Art Homo sapiens.

Beide Sichtweisen sind möglich, für beide gibt es gute Argumente, die dafür sprechen, aber es gibt auch jeweils gute Gegenargumente. Viele Anthropologen lassen die Zuschreibung zu einer Art oder Unterart deshalb heute ganz bewusst offen. So sind beispielsweise die Denisova-Menschen, nahe Verwandte der Neanderthaler, von den Erstbeschreibern explizit nicht mit einem wissenschaftlichen Namen versehen worden. Und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der für die Entschlüsselung des Neanderthalergenoms 2022 den Nobel-Preis erhielt, drückte es in einem Interview mit der Zeitschrift Spektrum, gefragt nach der Zuordnung des Neanderthalers als Unterart des Homo sapiens oder als eigene Spezies so aus:

"Ehrlich gesagt vermeide ich diese Frage lieber. Ich empfinde das als eine akademische, sterile Diskussion. Es gibt keine Artdefinition, die für alle Gruppen von Tieren oder Hominiden zutrifft. (...) Es ist typisch menschlich, alles in Fächer einordnen zu wollen und Arten von Unterarten zu trennen. Für mich ist viel interessanter: Wie haben sich unsere Vorfahren verhalten? Was hat uns voneinander unterschieden? Wie viel haben wir gemeinsam? Ob dann irgendein Gelehrter das Art oder Unterart nennen möchte, ist mir eigentlich egal."
Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

Die Bezeichnung Homo sapiens sapiens stammt aus der Zeit, als Neanderthaler als Homo sapiens neanderthalensis, also als Unterart des modernen Menschen klassifiziert waren. Der moderne Mensch musste deswegen H. sapiens sapiens sein. Wäre er nur H. sapiens, würde der Neanderthaler vom modernen Mensch abstammen, was offensichtlich nicht der Fall sein kann.

Seit Neanderthaler als eigenstände Art H. neanderthalensis neu beschrieben wurden, ist H. sapiens sapiens eigentlich hinfällig und der moderne Mensch ist nur noch H. sapiens. Eigentlich.

Frühe Fossilien, die H. sapiens zugeordnet werden, haben deutlich von heute lebenden Menschen abweichende Schädel- und Kiefermerkmale, unterscheiden sich im übrigens Skelett aber von allen anderen, älteren Homo Arten. Daraus resultiert das Konzept, die Art H. sapiens in einen archaischen Typ (H. sapiens) und eine moderne Unterart (H. sapiens sapiens) zu teilen. Eigentlich logisch.

Blöderweise fehlt in diesem Konzept aber eine genaue Definition, wo H. sapiens aufhört und wo H. sapiens sapiens anfängt. Dadurch lässt sich nicht einfach festlegen, wann die Trennung stattfand. Oft genannt werden 100000 Jahre. Das ist hauptsächlich eine Frage der Definition, liegt aber auch daran, dass Skelettfunde aus dem betroffenen Zeitraum relativ selten und immer unvollständig sind. Es gibt zu wenig Fossilien, um typische Merkmale durch Vergleiche sicher identifizieren zu können.

Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass das alles wieder über den Haufen geworfen wird die schwer abgrenzbare "jüngere Hälfte" der Homo Arten als Unterarten unter das Dach einer gemeinsamen Art gestellt werden. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sich das durchsetzt, aber dann wären wir Homo erectus sapiens.

Das "sapiens sapiens" wird gerne zur Unterscheidung vom Neandertaler genommen, sagt aber nicht sonderlich viel aus, da sich die beiden vermischt haben (zumindest in Europa). Wir sind Homo sapiens.