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Kapitel 1 - Asche und Hoffnung Kirian hatte in seinem Leben viele schreckliche Dinge erlebt, und doch jagte es ihm jedes Mal einen Schauer über den Rücken, wenn er alleine durch die düsteren Gassen des Eisenbruchs ging. Wie ein aufgeschlitzter Schlund führte der Weg zwischen den eng gedrängten Backsteinfassaden hindurch; die Häuser schienen immer dichter aneinander zu rücken, als würden sie ihn bald gänzlich verschlucken. Ein säuerlicher Gestank biss ihm in die Nase und ließ ihn würgen, er musste aus einem der Abwasserkanäle in seiner Nähe kommen, die vom Zentrum von Eravon nach außen flossen. Je weiter sie kamen, desto mehr Schmutz sammelte sich in ihnen an, was den Geruch immer unerträglicher werden ließ. Der Eisenbruch befand sich ganz am Rand der Stadt. Kirian zuckte zusammen, als etwas direkt an seinem Gesicht vorbeiflatterte. Nur ein Nachtfalter. Trotzdem saß ihm der Schreck in den Gliedern und ließ seine Augen hektisch durch die Gassen huschen. Das einzige, was die Dunkelheit durchbrach, war der flackernde Schein der Gaslaterne in seiner Hand, deren Glaskörper von Ruß und toten Insekten verschmiert war. Das Licht malte Schatten an die Wände, und keiner von ihnen trug ein freundliches Gesicht. Einige Meter entfernt raschelte etwas in der Finsternis, vielleicht nur eine Ratte – oder doch ein bewaffneter Straßenräuber. Er wusste, dass die Gedanken daran, was in der Dunkelheit lauern könnte, seine Angst nur nährten. Doch selbst sein sonst unerschütterlicher Optimismus, den manch anderer eher als Naivität oder Dummheit belächelt hätte, konnte das Bild der Messerklinge an seiner Kehle nicht aus seinem Kopf verdrängen. Er verfluchte sich im Stillen. Warum zitterten seine Hände? Wovor hatte er Angst? Er war schließlich kein Kind mehr, dass sich vor dem Monster unter seinem Bett fürchtete. Doch es war kein Wunder, dass sich Unbehagen in seiner Brust breitmachte, denn er bewegte sich auf gefährlichem Pflaster. Der Eisenbruch erinnerte an einen ausgezehrten Körper, wund, mager und fiebrig. Die Armut war hier allgegenwärtig. Sie klebte an den brüchigen Mauern, kroch in die Ritzen der Pflastersteine, schwamm im stinkenden Abwasser und blickte aus jedem Gesicht, dem man auf der Straße begegnete. Der Bruch, wie ihn seine Bewohner nannten, war einer der äußeren vier Stadtbezirke, und hauptsächlich zuständig für alle Arbeit, die mit Maschinen und Metallen zu tun hatte. Die Dampfbetriebe verpesteten die Luft, und in den Wohnvierteln herrschte die Bandenkriminalität. Umso erstaunlicher war es, dass zwischen all dem Schmutz und Elend ein Kind herangewachsen war, das weder seine Ideale noch seine Hoffnung verloren hatte. Obwohl der Himmel verschleiert vom Rauch der Fabriken war, blickte Kirian nach oben. Nicht ein einziges Schimmern der Sterne durchbrach die dunklen Schwaden, trotzdem stachen die hellen Türme des Kapitols klar aus dem tiefblauen Firmament hervor. Er fragte sich, ob die Magier der Akademie die Gebäude durch Zauber zum Leuchten gebracht hatten, ein alberner Gedanke, denn keine der dort gelehrten Künste vermochte so etwas. Das Leuchten stammte nicht von Zauberei, sondern elektrischen Lampen, deren Licht die Marmorfassade erhellten. Eine neue Erfindung der Alchemisten. Doch man möge Kirian seine Dummheit verzeihen, schließlich kamen solche Neuigkeiten im unteren Teil der Stadt erst Jahre später an, und selbst dann konnte sie sich dort niemand leisten. Der Gedanke an die Akademie ließ Kirians Herz schneller schlagen. Schon seit er klein war, hatte er davon geträumt eines Tages dort zu studieren, wie so viele andere Kinder auch. Doch er hatte die hohen Gebäude mit ihren spitzen Türmen und goldenen Kuppeln bisher nur von weitem bewundern dürfen, wie ein ferner Traum, der stets jenseits seiner Reichweite lag. Dort ein Stipendium zu bekommen war der einzige Weg für jemanden wie ihn, ein offizieller Staatsbürger zu werden, jemand mit Ansehen, Wahlrecht und Reichtum. Einer der wenigen Privilegierten, die auf dem Hügel im Zentrum von Eravon leben durften, abgegrenzt vom Rest des Volkes durch eine hohe Mauer. Doch das war es nicht, was Kirian wirklich begehrte. Reichtum bedeutete ihm wenig, von der Politik verstand er kaum etwas und für höhere Wissenschaften war er nicht klug genug. Was ihn antrieb, war ein anderer Traum; ein stiller, brennender Wunsch nach Sicherheit. Ohne die Sorge um das Geld für die nächste Mahlzeit und die Angst vor dem nächsten Winter. Nicht nur für sich, sondern für seine Familie, für all jene, die hier unten im Dreck vergessen wurden. Klar, wer braucht schon Politik oder Reichtum, wenn man auch gleich die Welt retten kann.