Du scheinst selbst kein Künstler zu sein. Wie kommst du auf die Annahme, künstlerische Freiheit erschöpfe sich einzig in der Fähigkeit, Neues zu schaffen? Verwechselst du das vielleicht mit dem aktuellen Zeitgeist - immer mehr in immer kürzerer Zeit einem gierigen Publikum zum Fraß vorzuwerfen, nur noch oberflächlicher Müll, der angeblich "neu" sein soll, um dann ganz schnell wieder zu langweilen und neuer Oberflächlichkeit Platz zu machen? Das hat mit Kunst rein gar nichts zu tun.
Ich kann mich nur für die Malerei äußern, weil ich selbst Malerin bin und mich mit anderen Kunstgattungen nicht beschäftige: Die Meister_innen haben sich auch über "Plagiate" entwickelt. Ein Monet hat nicht sofort seine metergroßen Seerosen in einem nie dagewesenen Stil (= neu!) gemalt, ein Kandinsky nicht in seinen Anfangsjahren das Bauhaus (=neu!) mitbegründet, ein Van Gogh nicht sofort seinen unverkenntbaren dynamischen Stil (=neu!) aus dem Nichts auf die Leinwand geworfen. Alle hatten Vorbilder, die meisten gingen jahrelang in den Louvre zum Kopieren - um von den Alten zu lernen. Kandinsky sah in einer Galerie Monets Heuschober - und schmiss seinen Buchhalter, um Maler zu werden. Natürlich hat er sich in seiner Anfangsphase besonders am Pastosen von Monet orientiert und daraus seine eigene Spachteltechnik entwickelt, bis er irgendwann begann, das Gegenständliche aufzulösen, bis er beim Blauen Reiter und beim Bauhaus ankam. Nur ein Beispiel. Die o.g. Maler haben es alle geschafft, am Ende ihres Lebens ein einzigartiges Werk zu hinterlassen. Auch wenn sich in der Bekanntheit die Verdienste stets zu dem verschieben, der am lautesten, schrillsten und auffälligsten war. So wird ständig Picasso als Vater des Kubismus gefeiert, während niemand mehr einen Braque zu kennen scheint. Aber das ist ein anderes Thema.
Die Malerei entwickelt sich auch heute weiter, wird aber nie die Alten vergessen, von denen zu lernen nie verkehrt sein kann. Deshalb wird es auch immer wieder Neues geben. Aber das entsteht nicht aus dem Vakuum, nicht ohne jahrhundertelanges historisches und handwerkliches Vorspiel.
Du fragst, was ist Kunst? Meine persönliche Antwort für die Malerei ist inzwischen: Kunst beginnt dort, wo die Realität endet, wo sie sich auflöst. Für mich sind weder AI / KI noch Fotorealismus Kunst im Sinne der Malerei. Wer ein Foto erschaffen will, kann zum Handy oder zur Kamera greifen. Und über AI / KI mag ich gar nicht erst diskutieren: Es ist für mich die totale Kapitulation des Menschen vor den selbsterschaffenden Maschinen, weil er seine eigene Intelligenz aufgegeben hat und sich zurück ins Tierreich herabwürdigt: aggressiv, tumb, vermeintliche "Fressfeinde" vernichtend. Deshalb nimmt der Anteil von Kunst im öffentlichen und privaten Leben stetig ab, weil in so einem gesellschaftlichen Klima kaum noch Platz dafür ist.