Waren sie nicht. Antisemitismus spielte im Kaiserreich kaum ein Rolle. Nicht mehr als heute in den USA. Die wirtschaftlichen und staatlichen Eliten waren vorwiegend prosemitisch, ähnlich wie in der heutigen „westlichen Wertgemeinschaft“.
Erst nach dem Verlust des Weltkrieges und dem Versailler „Vertrag“ änderte sich dies. Der Hass auf den lügnerischen Westen, auf antideutsche Rassisten wie Poincaré oder Clemenceau (den Vater des Versailler „Vertrages“) wuchs. Auch die Engländer wurde nicht mehr wie zuvor idealisiert und angebetet als vornehmstes und stärkstes aller germanischen Völker, sondern mehr als perfides Albion gesehen, das keine Verträge hält, durch und durch falsch ist und keine Sympathien hat für das ihm eigentlich rassenverwandte deutsche Volk.
In dieser frustrierten Lage bekamen auch die Juden ihr Fett weg. Die Antisemiten nutzten hier einige Fakten über Personen im Umfeld des US-Präsidenten Wilson aus, welche Juden waren, z. B. Paul Warburg, Jacob Schiff, Bernard Baruch, Samuel Untermeyer, Felix Frankfurter oder Louis Brandeis aus, um die USA allgemein als „verjudet“ darzustellen. Ähnliche Gedankengänge gab es auch in Bezug auf England und Frankreich. Hinter den bekannten antideutschen Politikern in diesen Staaten wurde die „jüdische Freimaurerei“ (z. B. der Grand Orient in Frankreich oder der AASR in Großbritannien) vermutet oder auf jüdische Personen im Umfeld der großen deutschfeindlichen Politiker hingewiesen, z. B. der britische Sproß der Rothschild-Familie in England, deren Geschäfte eng verbunden waren mit den Protagonisten des britischen Imperialismus wie Cecil Rhodes, Alfred Milner, einschließlich auch der Kriegstreiber gegen Deutschland wie H. H. Asquith oder Edward Grey.
In gewisser Weise waren die größten Freunde und Förderer jüdischen Einflusses in westlichen Ländern oftmals selbst zugleich so etwas wie „Antisemiten“ dadurch, dass sie diesen Einfluss offenbar auch fürchteten. So gibt es eine ganze Reihe von Aussprüchen z. B. von Winston Churchill oder Woodrow Wilson über die jüdische Macht in ihren Ländern, gegen die sie sich unter keinem Umständen stellen dürfen. So drückt sich Wilson etwa bewusst unklar aus, wenn er, in The New Freedom, 1913 darauf anspielt:
„Since I entered politics, I have chiefly had men's views confided to me privately. Some of the biggest men in the United States, in the field of commerce and manufacture, are afraid of somebody, are afraid of something. They know that there is a power somewhere so organized, so subtle, so watchful, so interlocked, so complete, so pervasive, that they had better not speak above their breath when they speak in condemnation of it.
They know that America is not a place of which it can be said, as it used to be, that a man may choose his own calling and pursue it just as far as his abilities enable him to pursue it; because to-day, if he enters certain fields, there are organizations which will use means against him that will prevent his building up a business which they do not want to have built up; organizations that will see to it that the ground is cut from under him and the markets shut against him. For if he begins to sell to certain retail dealers, to any retail dealers, the monopoly will refuse to sell to those dealers, and those dealers, afraid, will not buy the new man's wares.“
Adolf Hitler hatte in ganz jungen Jahren, also noch vor dem Weltkrieg, Antisemitismus allgemein abgelehnt und die Juden verteidigt. Nach Kriegsende und Versailler „Vertrag“ aber änderte sich seine Meinung schlagartig ins diametrale Gegenteil und er wurde im Laufe der Jahre zum wichtigsten Sprachrohr aller antisemitischen Kräfte in der Weimarer Republik.
Der deutsche Staat war übrigens auch nach 1919 nicht „antisemitisch“, ganz im Gegenteil. Die Weimarer Republik wurde für Juden in Deutschland zu einer Zeit der „goldenen Zwanziger“, was die Antisemiten natürlich nutzten, um gegen „jüdische Kriegsgewinnler“ zu wettern. In der Bevölkerung wuchs der Antisemitismus erst infolge der erfolgreichen Agitation antisemitischer Vereine, Bewegungen und Parteien, als deren Kern- und Schlüsselfigur sich gegen Ende der 20er schließlich Hitler herauskristallisieren sollte. Juden wie Walther Rathenau, Hugo Preuß, Georg Bernard (alle DDP), Kurt Eisner (SPD, später USPD), Eduard Bernstein (SPD) und viele weitere spielten prominente Rollen in der Politik der Weimarer Republik.
Die Gründe für den unerwarteten Aufstieg des Antisemitismus in Deutschland waren einmal die Verbreitung der Kenntnisse über Juden im Umfeld der Politiker der Feindstaaten USA, UK und Frankreich, zum anderen aber auch über jüdische Politiker in Deutschland selbst. Viele Juden in der Presse waren 1914 kriegsbegeistert, schwenkten ab 1917 aber auf Pazifismus um. Daran sahen viele Alldeutsche und Konservative sowie Militärs einen Verrat. Es entstand der Verdacht, die Juden hätten Deutschland 1914 nur zum Krieg gegen Russland aufgestachelt, um dieses Land ins Chaos zu stürzen, aus dem dann dort die bolschewistische Revolution hervorgehen und die Monarchie vernichtet werden würde. Als der Job 1917 erledigt war, schwenkten sie um, um Deutschland und Österreich-Ungarn selbst ins Chaos zu stürzen, damit auch hier die Monarchien verschwinden würden – so der Gedankengang dieser Judenkritiker. Tatsächlich strebte ja die Freimaurerei nach Abschaffung der klassischen Erbmonarchien und zu republikanischen Regierungsformen („Demokratien“). Entsprechende Theorien entbehrten damals also nicht einer gewissen Glaubwürdigkeit. Selbst deutsch-konservative Juden wie Walther Rathenau, der während des Krieges die deutsche Kriegswirtschaft leitete, wurden von manchen Militärs wie z. B. Erich von Ludendorff des Verrates verdächtigt. Tatsächlich wurde Rathenau 1922 auch ermordet von einem Anhänger dieser Verratstheorie.