Blickwechsel 15. September 2021
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Wie ist der rechtliche Status eines Ersthelfers?

1 Antwort

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Es ist im Prinzip, wie du sagst: In Deutschland gilt die allgemeine Pflicht zur Ersten Hilfe. Kommt man dem nicht nach, droht eine Verfolgung wegen unterlassener Hilfeleistung nach §323c StGB. Dabei ist der Ersthelfer eigentlich gut abgesichert: Sollte er selbst sich verletzen, ist er über die gesetzliche Unfallversicherung abgedeckt, sollte er Schäden anrichten ebenfalls. Da hast du also prinzipiell Recht: Der Ersthelfer wird in der Regel für das, was er versehentlich im Rahmen der Ersten Hilfe anrichtet, nicht belangt. Einzige Voraussetzung: Es darf nicht mutwillig, also mit Absicht, passieren. Rettet man einen Menschen aus einem brennenden Auto und bricht ihm dabei versehentlich den Arm, ist das ok. Trittst du einem daliegenden Verletzten einfach noch mal absichtlich gegen den Kopf, bevor du ihn in die stabile Seitenlage drehst – nun, das wäre nicht medizinisch notwendig gewesen und ist und bleibt Körperverletzung, auch wenn es im Rahmen der ersten Hilfe geschieht.

Prinzipiell sind Vergehen, die man im Rahmen der Ersten Hofe begeht, natürlich immer noch Vergehen – sie werden nach §34 StGB als „rechtfertigender Notstand“ aber nicht geahndet – sprich, wenn es eine notwendige Tat war, um dem Menschen zu helfen, dann wird sie nicht bestraft.

Menschen mit medizinischer Ausbildung, so wie du, werden als Ersthelfer prinzipiell gleich behandelt. Allerdings ist ihnen im Rahmen der ersten Hilfe mehr zuzumuten. Von einem Rettungsdienstmitarbeiter darf man eindeutig erwarten, dass er sich eher zu erster Hilfe überwindet als ein Laie und auch, dass er weiß, dass ein Patient in die stabile Seitenlage gehört, wenn er ohnmächtig ist, etc. Entsprechend hat  der Gesetzgeber höhere Erwartungen an medizinisches Personal. Wenn ein Laie überfordert ist und sich nicht traut, ist er nicht so schnell dran wegen unterlassener Hilfeleistung. Bei dir, der Patientenkontakt irgendwann mal kannte, wäre man vielleicht nicht so gnädig, weil man es von dir eher erwarten würde, als von dem kompletten Laien. Aber natürlich würde die lange Zeit, die du nicht im Job bist, berücksichtigt: Wenn du die Maßnahmen nicht regelmäßig geübt hast und letzten Endes alles von damals vergessen hast, würdest du vermutlich einem Laien gleichgesetzt. Ist letzten Endes alles Auslegungssache. Auch für medizinisches Personal gilt §34 – wenn sie eine Maßnahme durchführen, die notwendig, aber theoretisch nicht erlaubt ist, gehen sie straffrei aus. Umgekehrt sind die Ansprüche allerdings etwas schärfer als beim Laien: Wenn ein medizinisch geschulter Mensch Dinge durchführt, die er nicht kann oder von denen er wusste, dass sie nicht zum Erfolg führen bzw. die in der betreffenden Situation ungeeignet waren, dann wird er im Gegensatz zum Ersthelfer sicher etwas schärfer beurteilt werden.

Zusammengefasst gilt deine Kenntnis von vor 37 Jahren also noch. So lange man sich Mühe gibt und im besten Gewissen handelt, wird nichts passieren. Man sollte nur darauf achten, keinen absichtlichen Schaden anzurichten und im Falle eines medizinischen Mitarbeiters nur die Maßnahmen zu treffen, die man auch beherrscht und die nötig sind.

Woher ich das weiß:Berufserfahrung
GrafTypo 
Fragesteller
 16.09.2021, 16:58

Herzlichen Dank für die ausführliche Antwort. Und nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass du die Gruppe Base Excess noch nicht kennst, verlinke ich dir hier noch ein Lied: https://www.youtube.com/watch?v=I3FfEo2JxiA

Viel Spaß.

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GrafTypo 
Fragesteller
 16.09.2021, 20:32
@DorktorNoth

Hätte mich auch gewundert wenn nicht. Und selbstverständlich weißt du auch, wie das grüne Tuch heißt, das bei einer Operation zwischen Chirurg und Anästhesist gespannt wird … ;-)

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DorktorNoth  16.09.2021, 21:51
@GrafTypo

Selbstverständlich. Die Blut-Hirn-Schranke ist das einzige, das mich vor völliger Verblödung schützt... 😁

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GrafTypo 
Fragesteller
 16.09.2021, 22:23
@DorktorNoth

Aaaah! Nach 37 Jahren endlich mal wieder ein richtig guter, fachlicher und ernsthafter Gedankenaustausch zu einem fast vergessenen Abschnitt meines Lebens. Ich fühle mich so jung wie schon lange nicht mehr. Ganz lieben Dank :-)

Sammelst du Anekdoten zum Thema?

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GrafTypo 
Fragesteller
 16.09.2021, 22:43
@DorktorNoth

Den schlimmsten Humor haben die Pathologen.
Beim Mittagessen in der Kantine des Krankenhauses stocherte der Pathologe mit unglücklichem Gesicht in seinem Fleischgericht und seufzte gut hörbar: »Das sieht aus wie das, was ich vorhin auf meinem Arbeitstisch hatte.« Dann schaute er zu seinem Kollegen und sagte traurig: »Karl, zähl nachher mal die Neuzugänge nach, ob nicht einer fehlt.«

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Paul Watzlawick lässt grüßen.
Diese Geschichte hörte ich während meines Klinikpraktikums am ersten Tag auf der Intensivstation der internistischen Abteilung. Ich saß morgens neben der diensthabenden Ärztin und lauschte ihren Instruktionen, als plötzlich ohrenbetäubend laut der Herzalarm losging. Natürlich bin ich erschrocken aufgesprungen; in der Erwartung, dass ich jetzt womöglich zum ersten Mal bei einer Reanimation mitwirken musste. Auf einem der EKG-Monitore zeigte sich eine gerade Linie.
Die Ärztin schaltete gelassen den Alarm aus und klärte mich auf: »Bei dem Patienten hat sich eine der Elektroden gelöst. Das passiert mehrmals am Tag. Achten Sie mal genau auf die EKG-Kurve. Eine Asystolie sieht anders aus.«
Sie erklärte mir den Unterschied, und nachdem ich unter ihrer Anleitung den Patienten neu verkabelt hatte, erzählte sie mir noch eine Geschichte.

»Vor ein paar Monaten hatten wir einen Medizinstudenten auf der Station. Es war sein erster Tag als Famulus. Er kam von der Universität, vollgestopft mit Wissen, aber mit wenig praktischer Erfahrung.
Wenn die geballte Theorie zum ersten Mal auf die Praxis trifft, dann passieren oft merkwürdige Dinge. Man hat eine Erwartungshaltung, man ist konditioniert. Und diese Konditionierung führt manchmal dazu, dass man seine Umwelt selektiv wahrnimmt. Man achtet nur noch auf die Dinge, die mit der eigenen Erwartung übereinstimmen, und blendet den Rest aus. Das passiert vor allem unter Stress.
So erging es auch unserem jungen Famulus. Er war mit einem Intensivpatienten allein im Zimmer, als sich bei diesem eine Elektrode löste und der Herzalarm losging. Der Famulus hat sich genauso erschrocken wie Sie vorhin. Er warf einen Blick auf den EKG-Monitor, sah die Nullinie und erschrak noch mehr. Und jetzt schaltete sein Gehirn auf Notfallprogramm um und blendete den Rest der Welt aus. Hektisch begann er, alles für die Herz-Lungen-Wiederbelebung vorzubereiten. Intubationsbesteck, Beatmungsbeutel, Defi, Medikamente … – schnell, schnell!
Was der Famulus nicht mehr wahrnahm: der Patient verhielt sich nicht wie ein Mensch mit Asystolie. Hätte er darauf geachtet, dann wäre ihm zu Bewusstsein gekommen, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Aber er war so in seiner eigenen Wirklichkeit gefangen, dass er weitermachte wie gelernt.
Als er das Brett unter den Patienten rammte, beschwerte dieser sich entrüstet: ›He, was fällt Ihnen ein? Was machen Sie mit mir?‹
Der Famulus herrschte ihn daraufhin an: ›Halten Sie den Mund! Sie haben einen Kreislaufstillstand!‹
In diesem Moment kam eine Krankenschwester dazu und hat diesen Satz gehört. Die ganze Klinik hat später darüber gelacht. Seither ist das bei uns ein geflügeltes Wort: Halten Sie den Mund, Sie haben einen Kreislaufstillstand!«

Mir hat diese Geschichte zwei Erkenntnisse beschert.
– Urteile niemals vorschnell. Du bist kein Sherlock Holmes; dir entgeht vieles. Bleibe immer wachsam.
– Richte nicht über Pleiten, Pech und Pannen deiner Kollegen. Auch du wirst genügend Gelegenheit haben, dich im Dienst lächerlich zu machen. Quod erat demonstrandum.

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