Was will die Mythe über Midas (von Ovid) erklären?

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Midas ist in der griechisch-römischen Mythologie ein phrygischer König. Der Mythos kann unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht werden. Ovid erzählt nacheinander zwei Geschichten:

1) Umwandlung in Gold (Ovid, Metamorphosen 11, 85 – 145)

2) Eselsohren (Ovid, Metamorphosen 11, 146 – 193)

Ein Gesichtspunkt ist eine Aitiologie: Erscheinungen/Phänomene werden durch eine Erzählung über einen Ursprung (αἴτιον [aition]) in der Vergangenheit erklärt.

Bei der ersten Geschichte wird aitiologisch die Goldhaltigkeit des Flusses Pactolus (griechisch: Πακτωλός [Paktolos]) erklärt. Phrygische Bauern greifen den betrunkenen Silen (lateinisch: Silenus; griechisch: Σιληνός [Silenos]) auf und bringen ihn zu König Midas. Dieser erkennt ihn, nimmt ihn gastfreundlich auf und gibt ihm zu Ehren eine Feier von 10 Tagen und Nächte. Dann bringt Midas Silen zu Bacchus (griechisch: Διόνυσος [Dionyos]). Bacchus freut sich, seinen alten Erzieher Silen wieder in seinem Gefolge zu haben und stellt ihm einen Wunsch frei, Midas wünscht sich, daß alles, was er mit seinem Körper berührt, in Gold umgewandelt wird. Bacchus hält seine Zusage ein und gewährt den Wunsch, auch wenn er bedauert, daß Midas nicht um etwas Besseres gebeten hat, sondern eine schädliche Gabe begehrte. Midas prüft, ob die Gabe funktioniert und ist anfänglich begeistert. Dann merkt er aber, wie er nichts essen und trinken kann, weil alles zu Gold wird. Midas bekennt seinen Fehler und betet zu Bacchus, die Gabe loszuwerden. Bacchus hat Mitleid und gibt Anweisung, in der Quelle des Flusses Pactolus zu baden und das Vergehen abzuwaschen. Die Goldkraft weicht vom Körper und geht in den Strom. Der Fluß Pactolus, der vorher kein Gold führte (Ovid, Metamorphosen 11, 87 - 88), wird in großer Fülle goldhaltig (Ovid, Metamorphosen 11, 142 – 145).

Bei der zweiten Geschichte erzählt Ovid nicht ausdrücklich ein Aition. Eine aiotiolologische Erzählung hätte daraus entwickelt werden können, daß Midas seine Eselsohren unter einer hohen purpurnen Mütze verbirgt (Ovid, Metamorphosen 11, 180 – 181). Ovid erklärt in seiner Darstellung nicht das Tragen der hohen phrygischen Mütze als so entstandenen Brauch.

Die beiden Geschichten bei Ovid enthalten Beispiele für:

1) menschliche Dummheit/Torheit, in Form dummer/törichter, kurzsichtiger Wünsche

2) Unfähigkeit, ein Geheimnis für sich zu behalten

zu 1) Midas ist von Goldgier beherrscht, sein Verlangen nach sehr großem Reichtum bewirkt bei ihm Verblendung. Er achtet nicht auf die Gesamtheit seiner Bedürfnisse und scheint sich um kein höherrangiges Ziel als Reichtum zu kümmern. Midas ist ganz auf eine erwünschte Wirkung fixiert und überlegt gar nicht, was für schädliche Folgen sein Wunsch bei Erfüllung haben wird. Er denkt nicht daran, daß es ist nicht möglich ist, Gold zu essen und zu trinken.

zu 2) Midas zieht sich von Reichtum und Pracht zurück und hält sich bevorzugt in Wäldern und Fluren auf, aber er ist nicht klüger geworden, sondern träger Geist und seine Dummheit schaden ihm wiederum. Bei einem musikalischen Wettkampf zwischen Pan und Apollo/Apollon, bei dem der Bergott Tmolus (griechisch: Τμῶλος [Tmolos]) Schiedrichter ist, gefällt allen das Urteil, Apollo/Apollon zum Sieger zu erklären, nur Midas beschuldigt den Schiedrichter eines ungerechten Urteils. Zur Strafe bewirkt Apollo/Apollon, daß Midas Eselsohren bekommt (Ohren eines Tieres, das als dumm und unmusikalisch gilt).

Midas versucht seine Entstellung zu verheimlichen und verbirgt die Eselsohren unter einer hohen purpurnen Mütze. Aber der Diener, der ihm die Haare schneidet, bemerkt die Eselsohren. Der Diener wünscht die Sache mitzuteilen, wagt es aber nicht. Wissen über die Entstellung des Königs zu haben, aber das Geheimnis nicht mitteilen zu dürfen, ist für ihn eine seelische Belastung, die unerträglich wird. Der Diener hält dem Druck, das Geheimnis niemanden erzählen zu dürfen, nicht stand. Er benötigt seelische Entlastung durch Aussprechen des Geheimnisses. Er flüstert in eine von ihm gegrabene Grube in der Erde, Midas habe Eselsohren. Dies verschafft ihm Erleichterung. Dann schüttet er die Grube wieder zu. Darauf nach einiger Zeit wachsendes Schilf wispert dann die Nachricht von den Eselsohren.

Literatur:

Franz Bömer: P. Ovidius Naso, Metamorphosen : Kommentar. Band 5: Buch 10/11. Heidelberg : Winter, 1980 (Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern), S. 259 – 287

Maja Bošković-Stulli, Midas. In: Enzyklopädie des Märchens : Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich, Klaus Roth. Redaktion: Ines Köhler-Zülch, Christine Shojaei Kawan, Hans-Jörg Uther. Berlin : New York : de Gruyter, 1999, Spalte 633 - 641

Hans von Geisau, Midas 1. In: Der Kleine Pauly : Lexikon der Antike, auf der Grundlage von Pauly's Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter bearbeitet und herausgegeben von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Band 2: Iuppiter bis Nasidienus. Stuttgart : Druckenmüller, 1969, Spalte 1287 – 1288

Wilhelm Kroll, Midas 1) In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft : RE XV,2. Met bis Molaris lapis. Stuttgart : Druckenmüller, 1932, Spalte 1526 - 1536

Johannes Scherf, Midas II. Griechisch-römische Literatur. In: Der neue Pauly (DNP) : Enzyklopädie der Antike ; Altertum. Herausgegeben von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Band 8: Mer – Op. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2000, Spalte 154 – 155

Anneke Thiel, Midas : Mythos und Verwandlung. Heidelberg : Winter, 2000 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft ; Band 8). ISBN 3-8253-1043-4

Gold kann man nicht essen.

oder genauer:

Egal wie reich du bist, egal wieviel zu besitzt, das wird dich niemals glücklich machen, wenn du wichtigeren Werten keine Beachtung schenkst.