Was ist die Kernaussage von "Die Blechtrommel"?

6 Antworten

Die „Blechtrommel“ zähle ich zu der nihilistisch-atheistischen Literatur, die seit dem Erscheinen dieses Romans in der BRD en vogue war (und noch ist). Man erkennt diese Art von Literatur daran, dass alles, was mit Religion und Kirche zu tun hat, lächerlich gemacht wird. Außerdem wird die Sexualität in einem Maße überbetont, dass man – gerade bei der Blechtrommel – das Gefühl hat, dies sei eine einzige Abfolge von „Sauigeleien“. Man vergisst, dass die „Blechtrommel“ zunächst überwiegend negativ kritisiert wurde: Der Mensch werde in diesem Roman „degradiert und beschmutzt“, hieß es, „das Menschenbild geht unter“. „Eine Verhöhnung Christi“ wurde ausgemacht. Günter Blöcker spricht von einem Notzuchtversuch an einer Holzfigur in der Kirche. Ein weiterer Anklagepunkt gegen die Blechtrommel ist ihre Obszönität. Von „rustikalem Wälzen in Ferkelhaftigkeit“ und „einer solchen deftigen Nacktheit und grandiosen Un-Verschämtheit, dass man manchmal kaum weiter lesen kann“, ist die Rede. Wörter wie „Pornographie“ oder „ekelhaft“ tauchen regelmäßig in den Besprechungen auf. Die Aalszene, Grass’ genüssliche Beschreibungen von Erbrechen und Erbrochenem , wird gerne angeführt. Danach aber verstummte die negative Kritik. Es folgten nur noch die „Blechtrommel“ verklärende Rezensionen – für mich ein Beleg, dass sich die nihilistisch-atheistische Literatur und Literaturbetrachtung in der BRD durchgesetzt hatte und noch heute allgemein vorherrscht. Betrachtet man den Roman unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik und der Kunst, muss man an seiner (angeblichen) Bedeutung erhebliche Zweifel anmelden. Es gibt einige fundamentale Regeln der (literarischen) Kunst, die ein Schriftsteller beachten muss; andernfalls verschwindet sein Werk im Orkus der Vergänglichkeit. Vor allem muss es dem Künstler um Wahrheit gehen („Die Kunst ist das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit“, sagte Heidegger). Wenn man den Grass-Roman genau analysiert, wird man auf bestimmte Charakterisierungen stoßen, bei denen die Absicht des Autors unverkennbar auf politische Abwertung, Negativdarstellung zielt. Z.B. ist der Trompeter Meyn, ein Nazi, derart widerlich gekennzeichnet – er bringt seine 4 Katzen brutal um - , dass damit mehr als nur eine individuelle Charakterisierung erreicht werden soll; das ganze Nazi-System, dessen Repräsentant Meyn ist, soll in ein rabenschwarzes Licht getaucht werden, zumal Meyn zu seiner Rehabilitierung noch einen besonderen Eifer während der Reichkristallnacht an den Tag legt. Die äußerst ausführliche, geradezu viehische Art der Beschreibung dient hier als Kennzeichnung des Nationalsozialismus. Andere Nazis oder Sympathisanten werden in anderer Weise abgewertet, sie werden lächerlich gemacht, z. B. die marschierenden SA Leute, die durch Oskars Trommeln aus dem Tritt geraten, oder die Pfadfindererotik des Gemüsehändlers Greff oder die KdF- Geselligkeiten der Schefflers. Dagegen wird der Antagonist der Nazis, der Jude Markus, geradezu als Lichtgestalt gezeichnet. („Er nahm mit sich alles Spielzeug dieser Welt“, s. „Blechtrommel“, S. 166). Diese Art der gegensätzlichen Charakterisierung lässt fatal an Schwarz-Weiß- Charakteristik denken. Die kann in ihrer geballten Verallgemeinerung nicht stimmen. [Ich habe NS-Mitläufer bzw. „Minderbelastete“ gekannt, das waren ganz normale Leute; auch von den schwerer Belasteten haben vielleicht etliche unter Befehlszwang gehandelt und ihr Mitwirken bitter bereut. Eine solche differenzierende Betrachtung fehlt bei Grass; er behandelt die Nazis oder Nazi-Sympathisanten „politisch“ und damit einseitig]. Andererseits wird Sigismund Markus, der die verfolgten Juden repräsentiert, ebenfalls „politisch“ behandelt, das heißt überaus positiv charakterisiert. Weiter gilt im Bereich der literarischen Kunst nach wie vor der Schiller-Satz: Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst; „heiter“ als Metapher verstanden. Das heißt, die Kunst muss uns auch mit positiven, noblen Gefühlen durchdringen. Auf keinen Fall darf sie nur Gefühle wie Abscheu, Ekel, Widerwillen, Kotzneigung auslösen. Das aber ist bei der „Blechtrommel“ nahezu durchgehend der Fall.(Für mich das stärkste Indiz, dass es sich hier um sauren Kitsch handelt). Mit dem Merkmal „Wahrhaftigkeit“ hängen noch weitere Eigenschaften des Kunstwerkes zusammen: Maß und Ordnung. Die maßlosen Darstellungen des Schlechten, Widerwärtigen, Abscheulichen in der Blechtrommel weisen wieder auf ein typisches Kitschmerkmal hin: die Kumulation (hier nicht des Ästhetischen, wie beim süßlichen Kitsch, sondern des Grauenerregenden, Grässlichen - beim sauren Kitsch). Ich frage mich, wie jemand so ein Machwerk mit Gewinn lesen kann. Was jetzt die Frage nach der „Kernaussage“ betrifft, so muss man, gewissermaßen als Bestätigung meiner These, sagen: es gibt keine oder – man könnte auch, ganz im Sinne der nihilistisch-atheistischen Weltbetrachtung, sagen: die Welt ist ein Irrenhaus, das Leben ohne jeden Sinn und Zweck. Kopuliere, was das Zeug hält – das ist der Sinn des Lebens!

Beccie 
Fragesteller
 08.08.2011, 00:03

Erstmal vielen Dank, dass du dir so viel Mühe beim Schreiben gemacht hast... für diesen langen Text hast du sicher eine Zeit lang getipp... sehr schön, dass manche Menschen sich so viel Mühe machen! :) Meine Frage beantwortet deine Antwort zwar auch nicht, und die Suche nach der Kernaussage wird weitergehen, aber trotzdem freundlich, dass du dir so viele Gedanken gemacht hast. Bist du Deutschlehrer oder so was?

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Haldor  09.08.2011, 12:17
@Beccie

Ja, ich war Deutschlehrer, bin schon lange pensioniert; sehe mich noch heute wutentbrannt auf dem Sofa liegen, als ich vor Jahrzehnten die Blechtrommel – von Berufs wegen – lesen musste. – Natürlich könnte man auch gewisse (andere) „Kernaussagen“ (als ich sie genannt habe) in der Blechtrommel ausfindig machen. Das Trommeln des Zwergs Oskar und sein „Glaszersingen“ deuten darauf hin, dass hier wohl Protest geübt werden soll; vielleicht gegen die pervertierte Erwachsenenwelt (??). Diese Stellen, wo Oskar trommelt bzw. Glas zersingt, solltest du mal genauer untersuchen. Andererseits scheint mir diese Annahme auch wieder „ins Leere zu laufen“, denn ein humanes Ethos ist in der „Blechtrommel“ ja nicht zu erkennen. M. Reich-Ranicki vermutet, dass sich der Protest gegen die Existenz schlechthin richtet. (also ganz im Sinne meiner Ansicht, dass hier ein nihilistisch-atheistisch eingestellter Autor – übrigens ein ehemaliger SS-Mann! – am Werke war und seine „desperate“ Weltanschauung in den Roman hat einfließen lassen). Auch Reich-Ranicki sagt (in seiner voll berechtigten negativen Kritik), dass Oskar „jenseits aller ethischen Gesetze und Maßstäbe die absolute Inhumanität“ verkörpert. - Im Übrigen habe ich keine Lust, mich noch einmal mit diesem Roman zu befassen. Ein guter Roman muss doch auch Freude bereiten, er muss auch noble Gefühle hervorrufen. Wie kann man ein solches grausiges Machwerk wie die „Blechtrommel“ mit Gewinn lesen? (Wie ich bereits geschrieben habe). Ich könnte, wenn ich wollte, durch „haarkleine“ Analyse nachweisen, dass es sich hier um sauren Kitsch handelt, aber da ich nicht gerne k...... möchte, unterlasse ich die Analyse lieber.

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So eine blödsinnige Frage kann nur ein Deutschlehrer stellen. Als Antwort kriegt er dafür: Wenn ein verwachsener Zwerg behauptet, mit drei Jahren mit dem Wachsen aufgehört und dann als Erwachsener wieder damit angefangen zu haben und außerdem ständig auf einer Kinderblechtrommel herumschlägt und schreit, dass das Glas zerbricht, dann kommt er eben in eine Heil- und Pflegeanstalt. Das und nichts anderes würde ich als Kernaussage bezeichnen, zumal ja die Blechtrommel mit dem Satz beginnt: "Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt". Da wird einem sofort die Kernaussage ins Gesicht geworfen.

Beccie 
Fragesteller
 08.08.2011, 00:00

Danke für deine Antwort, auch wenn sie nicht unbedingt meine Frage beantwortet ;)

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Zum Thema "Kernaussage" möchte ich noch kurz anmerken, was Kurt Tucholsky einmal gesagt hat (in "Starter, die Fahne! Vorwärts mit fünf PS!"). Er sprach dabei über das Sprachgefühl von Siegfried Jaobsohn. Zitat: "Einmal fand er eine Stelle, die er nicht verstand. »Was heißt das? Das ist wolkig!« sagte er. Ich begehrte auf und wußte es viel besser. »Ich wollte sagen ... « erwiderte ich – und nun setzte ich ihm genau auseinander, wie es gemeint war. »Das wollte ich sagen«, schloß ich. Und er: »Dann sags.«" Genau so sollte es sein. Wenn man bei einem Schriftsteller nach der Kernaussage suchen muss, dann hat er das Schreiben nicht richtig gelernt, und er mus sich von Siegfried jacobsohn sagen lassen: "Dann sags".

Beccie 
Fragesteller
 08.08.2011, 16:29

Danke! Interessante Antwort :)

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Muss denn ein Buch unbedingt eine Kernaussage haben? Bei einer philosphischen Abhandlung vielleicht, aber bei einem Roman? Deshalb habe ich in meiner ersten Antwort gesagt, dass das eine typische Deutschlehrerfrage ist. Warum immer so vergrübelt an ein Buch herangehen und nach der Kernaussage suchen? Warum nicht infach sich an den originellen Einfälln des Schriftstellers und am Fortgang der Geschichte erfreuen? Das ist die Aufgabe eines Romans; für Kernaussagen gibt es die literarischen Formen des Essays oder eben der philosophischen Abhandlung.

Beccie 
Fragesteller
 08.08.2011, 16:30

Bei einem Roman, dessen Autor den Nobelpreis gewonnen hat, erwarte ich schon eine Kernaussage.

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Der kleine Oskar weigert sich zu wachsen, weil er in solch einer Gesellschaft (Vorkriegszeit) nicht erwachsen werden will. Denn in dieser Zeit erwachsen zu werden bedeuten würde so zu werden wie die Menschen um ihn herum. Es fehlen ihm Vorbilder, und die die es sein wollen oder sein könnten, sind meist Nazis. Deswegen stimme ich dem Kommentar oben zu, dass es eine Protest seiner ist. Ich finde, dass der Oskar in der heutigen Welt relevant ist. Heutzutage erwachsen zu werden, bedeutet die heuchlerische "Demokratie und die ungerechten Gesetzte und unmoralischen Tugenden mit denen wir tagtäglich konfrontiert wird, in gewisser Weise zu akzeptieren. Ob Oskar trotz seiner nicht wachsens, evtl. trotzdem erwachsen (reif) wird, sei dahingestellt. Für mich ist die Blechtrommel eine Warnung an die junge Generation, und eine Ermutigung den Status-Quo nicht ohne weiteres zu akzeptieren, nur weil man ansonsten als unreif, klein, oder nicht als vollständiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt wird.

innovativeminds  14.04.2015, 02:14

Und jetzt bitte keine Kommentare wegen den paar grammatikalischen Fehlern. Es ist spät.

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