Was ist der Unterschied zwischen ethischen und dianoetischen Tugenden?

1 Antwort

Ethische Tugenden sind Charaktertugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters. Sie werden durch Einübung/Gewöhnung erworben/ausgebildet. Sie sind Einstellungen, die eine Mitte zwischen zwei falschen Extremen treffen.

Dianoetische Tugenden sind Verstandestugenden /Vortrefflichkeiten des Verstandes (griechisch: ἀϱεταὶ διανοηϑικαί [aretai dianoetikai]). Sie werden durch Lernen ausgebildet. Bei ihnen gibt es kein Zuviel als falsches Extrem.

Das griechische Wort ἀϱετή (arete) bedeutet der Wortherkunft nach (ἄϱιστος [aristos] = „bester“ ist als Superlativ eine Steigerung von ἀγαϑός [agathos] = „gut“) etwas wie „Bestheit“ bzw. ein hervorragendes Gutsein. In der deutschen Sprache sind Tugend, Vortrefflichkeit und Tüchtigkeit die hauptsächlichen Übersetzungsmöglichkeiten.

ethische Tugenden/Charaktertugenden

Aristoteles versteht ethische Tugend/Charaktertugend allgemein und die einzelnen ethische Tugenden/Charaktertugenden als (richtige) Mitte (griechisch: μεσότης [mesotes]), die zwischen einem Zuviel (Übertreibung/Übermaß) und einem Zuwenig (Zurückbleiben/Mangel) liegt. Sie stehen somit in Gegensatz zu jeweils zwei Extremen (Extrem des Zuviel und Extrem des Zuwenig), die Glück (das Ziel eines guten Lebens) verfehlen und schlecht sind.

Wie Aristoteles erläutert, ist die Mitte zugleich unter dem Gesichtspunkt des Guten/Wertes das Äußerste/Höchste. Die Mitte bei der Charaktertugend ist nicht mit Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit zu verwechseln. Sie hat nicht einfach immer einen quantitativ gleichen Abstand zu den Extremen. Die Mitte bei der Charaktertugend ist auf die jeweilige Person und Situation bezogen. Die Mitte ist das Angemessene.

Die Mitte ist von richtiger Überlegung bestimmt und entspricht der Klugheit/praktischen Vernunft (verbindet ein Wissen über allgemeine Prinzipien mit umsichtiger und geschickter Anwendung im Einzelfall).

Nach Auffassung von Aristoteles sind ethische Tugenden/Charaktertugenden feste innere Haltungen/Einstellungen, aus denen heraus Menschen gut handeln. Sie haben einen Bezug zu Affekten (Leidenschaften), die mit Lust und Schmerz verbunden sind

Beispiel: Tapferkeit

Tapferkeit ist Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit. Menschen können sich sowohl von zuviel Angst/Furcht als auch von zuviel Mut/Zuversicht bestimmen lassen.

Wenn Menschen sich übermäßig von Angst/Furcht bestimmen lassen, ergibt sich ein feiges Verhalten. Dies kann dazu führen, Niederlagen und Verluste zu erleiden und sich unnötig von der Verwirklichung von Lebenszielen abhalten und daran hindern zu lassen.

Wenn Menschen sich übermäßig von Mut/Zuversicht bestimmen lassen und tollkühn verhalten, ist dies mit Leichtsinn, dummer Selbstüberschätzung und mangelnder Berücksichtigung bzw. Unterschätzung von Gefahren verbunden. Dies führt dann leicht zu Schäden und Katastrophen.

Beide Extreme führen zu nachteiligen und unangenehmen Folgen. Menschen können sich in zwei verschiedene Richtungen falsch verhalten. Tapferkeit ist auf ein in einer Lage angemessenes Ausmaß an Standhaftigkeit und Vorsicht ausgerichtet.

dianoetische Tugenden/Verstandestugenden

Bei dianoetischen Tugenden/Verstandestugenden ist ein Höchstmaß am besten. Es gibt keine Steigerung, bei der es zu einem falschen Extrem kommt. Aristoteles, Nikomachische Ethik 6, 1 - 13 untersucht als dianoetische Tugenden/Verstandestugenden Kunstfertigkeit/Technik (griechisch: τέχνη), Klugheit/praktische Vernunft (griechisch: φρόνησις), Vernunft/Geist (griechisch: νοῦς), Weisheit (griechisch: σοφία), Wohlberatenheit (griechisch: εὐβουλία), Verständigkeit (griechisch: σύνεσις), Einsicht/Urteilskraft in Bezug auf das Billige (γνώμη) und ihr Verhältnis zueinander.

Beispiel: Weisheit

Weisheit bedeutet, bei Prinzipien (Grundsätzen) die Wahrheit zu erkennen und zu verstehen, nicht nur die Folgerungen aus den Prinzipien. Damit steht Weisheit an der Spitze des Erkennens.

Ein Mensch kann nicht zuviel Weisheit haben.

PapaverDubium  04.07.2023, 16:34

Vielen Dank für die gute und ausführliche Antwort :D

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