Warum wollte Marc Aurel seine ,,Bücherbegiehr“ ablegen?

1 Antwort

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 2, 3 verwendet im Satzzusammenhang die Akkusativ Singular-Form des Substantivs δίψα (dipsa) = „Durst“, „(heftiges) Verlangen“ und ῥῖψον, 2. Person Singular Imperativ Aorist des Verbs ῥίπτειν (rhiptein) = „(weg)werfen“.

Ein Durst, ein (heftiges) Verlangen/eine Gier/eine Begierde nach Büchern kann als Begierde (griechisch: ἐπιθυμία [epithymia]) eingestuft werden, die nach Stoikern ein nicht-vernünftiges Streben (griechisch: ἄλογος ὄρεξις [alogos orexis) ist (Diogenes Laertios 7, 113).

Als geistig interessierter Mensch hatte Marcus Aurelius Interesse am Lesen von Büchern und Wünsche danach. Daher gibt es eine Veranlassung, sich selbst zum Loslösen von einer Gier danach aufzurufen, um keiner Begierde zu verfallen, sondern sein Verhalten zu zügeln.

Als Zweck/Ziel des Ablegens einer Gier nach Büchern nennt Marcus Aurelius, ohne Murren/Unwillen zu sterben, sein Leben heiter und mit dankbarem Gefühl gegenüber den Gottheiten zu beenden.

Ein Bücherlesen kann nach seiner Überzeugung offenbar bei einer Begierde danach zu einem unnötigen Streben werden, das nicht zur Glückseligkeit beiträgt und möglicherweise sogar störend dafür ist. Zentral ist, das Weltganze als vernunftgeleitet und ein Harmonie zu verstehen und den Willen zu haben, sich darin einzufügen. Diese Einsichten sollen als Grundüberzeugungen genügen.

Dies kann in vollem Ausmaß nur vor dem Hintergrund der stoischen Philosophie verstanden werden.

Die stoische Ethik vertrat die Lehre, in Übereinstimmung mit der Natur (griechisch: φύσις; lateinisch: natura) zu leben. Eine Grundbestrebung in der Welt ist die Oikeiosis (griechisch: οἰκείωσις; „Einhausung“; „Aneignung“; „Zueignung“; lateinisch gibt es keine völlige sprachliche Entsprechung, Cicero übersetzt mit commendatio und conciliatio, Seneca verwendet neben commendatio die Begriffe amor sui und conservatio sui). Jedem Lebewesen geht es um den spezifischen Bestand seines eigenen Seins, Nützliches/Förderliches/Zuträgliches wird angestrebt, Schädliches/Abträgliches gemieden. Ausgehend von der Selbstzugewandtheit bezieht sich die Zuwendung nicht nur auf das eigene Selbst, sondern auch auf die anderen, verbindet schließlich die ganze Menschheit.

Der menschliche Geist (griechisch: λόγος und νοῦς; lateinisch: animus) wird als Teil einer göttlichen, den Kosmos lenkenden Allvernunft, eines ihn erfüllenden Logos (griechisch: λόγος; lateinisch: ratio) verstanden. Gemäß der Natur leben bedeutet gemäß dieser Vernunft leben (lateinisch: secundum rationem vivere). Der Mensch soll also in Einklang/Übereinstimmung leben (Zenon; griechisch: ὁμολογουμένως ζῆν) bzw. in Übereinstimmung mit der Natur leben/der Natur gemäß leben (griechisch: ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν; lateinisch: secundum naturam vivere/naturae convenienter vivere) bzw. in Übereinstimmung mit dem Logos/der Vernunft leben/vernunftgemäß leben (griechisch: κατὰ λόγον ζῆν; lateinisch: secundum rationem vivere), was inhaltlich alles auf das Gleiche hinausläuft.

Eine zentrale Lehre in der stoischen Ethik war das Anstreben von „Apatheia" (griechisch: ἀπάθεια; lateinisch impassibilitas; nicht einfach mit „Apathie" als Mattheit, Stumpfsinn und Gleichgültigkeit gleichzusetzen). Dies bedeutet wörtlich einen Zustand der Erleidenslosigkeit. Dieser wird durch Leidenschaftslosigkeit erreicht, eine seelische Verfassung, die gegen das Erleiden einer Gemütsbewegung unempfänglich macht. Die Gleichgültigkeit bezieht sich auf nicht Verfügbares.

Der ideale Mensch, der stoische Weise (griechisch: σοφός; lateinisch: sapiens), ist frei von den Leidenschaften (Affekten) Lust und Schmerz. Diese beruhen auf irrigen Meinungen und er verweigert solchen von außen an ihn herantretenden Vorstellungen seine bewusste Zustimmung. Damit wird nicht das Gefühlsleben schlechthin verworfen, sondern nur unangemessene Emotionen. Allerdings hielten die Stoiker die meisten Gefühle tatsächlich für Abirrungen; so galt Furcht insgesamt als unvernünftig. Affekte stören nach ihnen die Seelenruhe und sind ein Hindernis für das glückliche Leben. Auch andere philosophische Richtungen vertraten Selbstbeherrschung als anzustrebende Haltung, die Stoiker aber besonders weitgehend und als wesentliche Grundlage des guten Handelns und des Glücks.

In der stoischen Ethik ist das einzige Gute die Tugend/Vortrefflichkeit (griechisch: ἀρετή; lateinisch: virtus). Allein die innere Einstellung ist zu beeinflussen, bei der die Vernunft von außen an sie herantretenden Vorstellungen, die ein Streben in Bezug auf eine Verwirklichung auslösen können, ihre bewusste Zustimmung erteilt oder nicht. Tugend besteht dabei darin, nicht irrigen Meinungen zu verfallen, somit den richtigen Weg zum Glück zu beschreiten.

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 2, 3:

Τὰ τῶν θεῶν προνοίας μεστά. τὰ τῆς τύχης οὐκ ἄνευ φύσεως ἢ συγκλώσεως καὶ ἐπιπλοκῆς τῶν προνοίᾳ διοικουμένων. πάντα ἐκεῖθεν ῥεῖ˙ πρόσεστι δὲ τὸ ἀναγκαῖον καὶ τὸ τῷ ὅλῳ κόσμῳ συμφέρον, οǷ μέρος εἶ. παντὶ δὲ φύσεως μέρει ἀγαθόν, ὃ φέρει ἡ τοῦ ὅλου φύσις καὶ ὃ ἐκείνης ἐστὶ σωστικόν. σῴζουσι δὲ κόσμον, ὥσπερ αἱ τῶν στοιχείων, οὕτως καὶ αἱ τῶν συγκριμάτων μεταβολαί. ταῦτά σοι ἀρκείτω˙ ἀεὶ δόγματα ἔστω. τὴν δὲ τῶν βιβλίων δίψαν ῥῖψον, ἵνα μὴ γογγύζων ἀποθάνῃς, ἀλλὰ ἵλεως ἀληθῶς καὶ ἀπὸ καρδίας εὐχάριστος τοῖς θεοῖς.

Des Kaisers Marcus Aurelius Antoninus Selbstbetrachtungen. Neue Übersetzung mit Einleitung und Anmerkungen von Albert Wittstock. Leipzig : Reclam, 1879 (Philipp Reclams Universalbibliothek ; Nr. 1241. 1242), S. 24:

„Alles ist voll von Spuren göttlicher Vorsehung. Auch die zufälligen Ereignisse sind nichts Unnatürliches, sind abhängig von dem Zusammenwirken und der Verkettung der von der Vorsehung gelenkten Ursachen. Alles geht von der Vorsehung aus. Hiermit verknüpft sich sowohl die Notwendigkeit als auch das, was zur Harmonie des Weltganzen nützlich ist, wovon du ein Teil bist. Was mit dem großen Ganzen übereinstimmt und was zur Erhaltung des Weltplanes dient, das ist für jeden Teil der Natur gut. Die Harmonie der Welt wird erhalten sowohl durch die Veränderungen der Grundstoffe als auch der daraus bestehenden Körper. Das genüge dir, das möge dir stets zur Lehre dienen. Den Bücherdurst vertreibe, damit du nicht murrend sterbest, sondern mit wahrem Seelenfrieden und dankbarem Herzen gegen die Götter.“

Mark Aurel, Selbstbetrachtungen : griechisch – deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel. 2. Auflage. Mannheim : Artemis & Winkler, 2010 (Sammlung Tusculum), S. 29:

„Was von den Göttern kommt, ist von der Vorsehung bestimmt; was dem Zufall unterliegt, ist nicht ohne Verbindung mit der Natur und nicht ohne Verknüpfung und Verkettung mit allem, was von der Vorsehung bestimmt ist. Alles hat dort seinen Ausgangspunkt. Es kommt noch das Notwendige und das für den ganzen Kosmos Nützliche hinzu, von dem du ein Teil bist. Für jeden Teil der Natur aber ist alles gut, was de Natur des Ganzen mit sich bringt und was ihrer Erhaltung dient. Den Kosmos aber erhalten die Verwandlungen sowohl der kleinsten Bausteine wie auch der zusammengesetzten Körper.

Diese Einsichten sollen dir genügen, wenn sie deine Grundüberzeugungen sind. Befreie dich von deinem Hunger auf Bücher, damit du dein Leben nicht in Gram beschließt, sondern wahrhaft heiter und den Göttern von Herzen dankbar.“

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Mit einem Begleittext von Helmut Schmidt (†). Ditzingen : Reclam, 2019, S. 20:

„Was von den Göttern kommt, ist voll von Vorsehung, was vom Zufall kommt, ist nicht frei von Natur oder ohne Verflechtung und Verknüpfung mit dem, was die Vorsehung durchwaltet; alles hat dort seinen Ursprung. Dazu kommt noch das Notwendige und das für den ganzen Kosmos Nützliche, von dem du ein Teil bist. Für jeden Teil der Natur ist gut, was die Natur des Ganzen mit sich bringt und was diese erhält. Den Kosmos aber erhält die Verwandlung sowohl der Elemente wie auch der aus ihnen zusammengesetzten Körper. Das soll dir genügen, wenn es deine Grundsätze sind. Den Durst nach Büchern aber gib auf, damit du dereinst nicht murrend stirbst, sondern wahrhaft heiter und von Herzen dankbar gegenüber den Göttern.“