Warum verwendet gefühlt die Hälfte der deutschsprachigen Bevölkerung das Wort "nachvollziehen" falsch?

8 Antworten

Normaler Sprachwandel. Die genaue Bedeutungsbreite von Wörtern verändert sich eben, und was heute noch falsch ist, ist morgen (auch) richtig.

Mir stößt immer noch auf, wenn die Leute "realisieren" für "merken", "wahrnehmen" verwenden (Einfluss von "realize"), anstatt für "verwirklichen".

Ähnlich die Philologenfloskel "das meint" für "das bedeutet", "das heißt", denn meist kann das angesprochene Agens keine Meinung haben. 

Noch augenfälliger der Wandel ins Gegenteil bei "Kontrahent" (von "con-trahere", "zusammen - an einem Strick - ziehen") von "Verbündeter" zu "Gegner" wegen falscher Analyse "contra-hent"

Wörter leben und wandeln ihre Bedeutung entsprechend der Gesellschaft, in der sie benutzt werden. Z.B. wird auch "scheinbar" immer wieder – und mittlerweile fast ausschließlich – falsch verwendet. Es bedeutet nämlich nicht, dass etwas so scheint und vermutlich auch so ist, sondern es bedeutet, dass etwas so scheint, obwohl es gerade nicht so ist. Es verwandelt den Sinn eines Satzes also in der Regel in sein Gegenteil.

Vieles tut denen weh, die die Sprache lieben. Aber mit manchem muss man eben leben.

nachvollziehen bedeutet, dass man sich vorstellen kann, wie jemand gedacht hat und auch, wie etwas gewesen ist.

Da du ja gefühlte 40 Millionen Leute das hast sagen hören, sollte es dir leichtfallen, ein paar solcher "falschen" Beispiele zu nennen.

nachvollziehen kann man verwenden im Sinn von "verstehen" also z.B. "ich kann deinen Gedankengang jetzt nicht ganz nachvollziehen"

eine andere Einsatzmöglichkeit kenne ich gerade nicht.

Nach meinem Sprachgefühl hat dieses Wort etwas mit Spurensuche, mit Rückversicherung und gleichzeitigem Vorwärtsdrang, mit der Suche nach gesicherten Erkenntnissen auf der Grundlage von Nachforschung auf der Grundlage eigenen Wissens zu tun, um die vorherigen Erkenntnisse Anderer zu bestätigen oder zu widerlegen.

Nachvollziehen bedeutet also, aus eigener Forschung nachträglich die Schlüsse eines Vorgängers zu rekapitulieren.

Ich finde also nicht, das es falsch benutzt wird.

Allerdings kann ich Deine Irritation nachvollziehen...
Denn die Nachvollziehung im psychologischen Sinn hat inzwischen Einzug im Sprachgebrauch gehalten und sich dabei gewandelt:

Nachvollziehen ist inzwischen im Alltag ein Synonym zu "verstehen", die Grenzen sind fließend.
Du hast völlig recht, ein "Nachvollziehen" i.S. von Rekapitulation ist nicht dasselbe wie das "Verstehen" i.S. einer Übereinstimmung emotionaler Ziele,
aber diese feinsinnigen Unterscheidung wirst Du nur äußerst selten in Gesprächen unterbringen können.

Sehr schade.

Noch schlimmer wird es, wenn ähnlich "verwechselbare" Wörter wie Toleranz, Verständnis oder Empathie in's Spiel kommen.
Dann gute Nacht!

Liebe Naniyattenda, gib bitte nicht auf und lass Dich nicht beirren, wenn es um Dein eigenes Sprachgefühl geht.
Damals schrien alle mich an, ich wäre ein Erbsenzähler;
heute beneiden mich viele darum.

Und ich selber bin am meisten froh, dass ich mich ausdrücken kann.
Ob schriftlich oder persönlich, auch im Streit.