Denk- und Wollenswidersprüche?

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Bei dem kategorischen Imperativ, den Kant vertritt, werden praktische Maximen (subjektive Grundsätze des Handelns) geprüft, ob sie widerspruchsfrei als Bestandteil einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft gedacht und gewollt werden kann.

Wenn sich ein Widerspruch ergibt, ist die Maxime moralisch falsch und die Handlung nicht erlaubt.

Denkwiderspruch: Die Maxime kann nicht widerspruchsfrei als Bestandteil einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft gedacht werden.

Wollenswiderspruch: Die Maxime kann nicht widerspruchsfrei als Bestandteil einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft gewollt werden.

Beispiele:

a) Selbsterhaltung

Die Maxime, sich aus einem Prinzip der Selbstliebe selbst zu töten, wenn das Leben bei einer längeren Frist mehr Übel droht Annehmlichkeit verspricht, hält Kant für nicht widerspruchsfrei denkbar. Denn das Prinzip der Selbstliebe versteht er als auf Förderung des Lebens ausgerichtet. Dies ist mit der Zerstörung des Lebens unvereinbar.

b) Wohltätigkeit durch Hilfe/Beistand in der Not (kein Unterlassen von Hilfeleistung, weil jemand keine Lust hat, für jemand etwas beizutragen, der mit großen Mühseligkeiten zu kämpfen hat)

Die Maxime, zum Wohlbefinden eines anderen nichts beitragen oder ihm keinen Beistand in der Not zu leisten, wenn jemand keine Lust hat, einem anderen zu helfen, kann widerspruchsfrei gedacht werden. Denn mit dieser Denkungsart als allgemeines Naturgesetz wäre ein Bestehen des Menschengeschlechts nicht denkunmöglich.

Die Maxime kann aber nicht widerspruchsfrei als allgemeines Naturgesetz gewollt werden.

Niemand kann völlig ausschließen, irgendwann Hilfe/Beistand nötig zu haben. Mit einer Maxime, die eine Pflicht zu Hilfe/Beistand ablehnt, als allgemeines Gesetz würde sich jemand der Hoffnung auf Hilfe/Beistand für einen solchen Fall berauben.

Ein Mensch wünscht sich aber vernünftigerweise Hilfe/Beistand für einen solchen Fall.

Pflichten

Bei den strengen/engen (vollkommenen) Pflichten kann die dagegen verstoßende Maxime nicht widerspruchsfrei als Bestandteil einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft gedacht werden und erst recht nicht gewollt.Bei den weiteren (unvollkommenen) Pflichten kann die dagegen verstoßende Maxime zwar als Bestandteil einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft gedacht, aber nicht gewollt werden, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde.

Pflicht ist bei Immanuel Kant die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem moralischen Gesetz.

Pflicht tritt als inneres Gebot auf, gut zu handeln.

Zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten besteht nach Kants Darlegung ein Unterschied in der Art der Verbindlichkeit: vollkommene Pflichten haben eine enge bzw. strenge Verbindlichkeit, unvollkommene Pflichten eine weite Verbindlichkeit.

Vollkommene Pflichten sind dem Begriffsumfang nach Pflichten, die Rechtspflichten sind. Unvollkommene Pflichten sind dem Begriffsumfang nach Pflichten, die allein Tugendpflichten sind, keine Rechtspflichten.

Rechtspflichten gebieten eine Handlung (eine äußere Gesetzgebung ist möglich). Pflichten, die allein Tugendpflichten sind (sie können keiner äußeren Gesetzgebung unterworfen werden, weil sie auf einen Zweck ausgerichtet wird, aber einen Zweck als Ziel zu verfolgen, durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden kann) gebieten eine Maxime (dem Vernunftinteresse entnommener subjektiver Grundsatz) der Handlung, nicht genau die Handlung selbst.

Der Zweck der Handlung ist in beiden Fällen zugleich Pflicht, aber bei unvollkommenen Pflichten gibt es (anders als bei vollkommenen Pflichten) einen Spielraum in der Anwendung der Maxime. Bei der Beachtung und Befolgung der Maxime ist nicht genau bestimmt, wie (auf welche Weise) und wieviel (in welchem Ausmaß) der Zweck bewirkt wird.

Immanuel Kant nimmt an, eine Pflichtenkollision (Zusammenstoß/Zusammenprall einander widerstreitender Pflichten) könne nicht auftreten. Möglich sei unterhalb der Ebene der Pflicht ein Widerstreit zwischen Gründen der Verbindlichkeit.

Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797). Erster Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Einleitung in die Metaphysik der Sitten. IV. Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten (philosophia practica universalis). AA VI, 224:

„Ein Widerstreit der Pflichten (collisio officiorum. s. obligationum) würde das Verhältnis derselben sein, durch welches eine derselben die andere (ganz oder zum Teil) aufhöbe. – Da aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe sind, welche die objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken und zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich notwendig sein können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine Pflicht, sondern sogar pflichtwidrig: so ist eine Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar (obligationes non colliduntur). Es können aber gar wohl zwei Gründe der Verbindlichkeit (rationes obligandi), deren einer aber, oder der andere, zur Verpflichtung nicht zureichend ist (rationes obligandi non obligantes), in einem Subjekt und der Regel, die es sich vorschreibt, verbunden sein, da dann der eine nicht Pflicht ist. – Wenn zwei solcher Gründe einander widerstreiten, so sagt die praktische Philosophie nicht: daß die stärkere Verbindlichkeit die Oberhand behalte (fortior obligatio vincit), sondern der stärkere Verpflichtungsgrund behält den Platz (fortior obligandi ratio vincit).“

Hanswurst862 
Fragesteller
 28.04.2021, 18:33

Cool, danke für deine Hilfe!

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