Sokrates und der Wahrheitsbegriff?

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Die Aufgabe ist schwierig, weil Sokrates selbst keine schriftlichen Werke mit Darlegung seiner philosophischen Auffassungen geschrieben hat und die Auffassungen der Sophisten nur bruchstückhaft und möglicherweise teilweise in der Deutung anderer erhalten sind.

Der Wahrheitsbegriff bei Platon kann sehr viel besser untersucht werden, weil von ihm viele schriftlichen Werke erhalten sind und darin Äußerungen über das Thema vorkommen.

Was der geschichtliche Sokrates gedacht hat, kann nur sehr eingeschränkt aus Schriften von Platon Xenophon und anderen Sokratikern (Schüler/Freunde des Sokrates) ermittelt werden, weil sie Sokrates als eine Dialogfigur auch eigene Gedanken der Autoren vertreten lassen.

Texte der Sophisten sind in Sammlungen zu den Vorsokratikern enthalten. Die Fragmente der Vorsokratiker (FVS bzw. VS) werden gewöhnlich nach der Zählung in der Standardausgabe von Hermann Diels und Walther Kranz angegeben (DK = Diels/Kranz).

»Wahrheit« heißt altgriechisch ἀλήθεια, »wahr« ἀληθής/ἀληθές.

Bücher in Bibliotheken bieten Darstellungen zum Wahrheitsbegriff in der Antike allgemein, z. B.:

Jan Scaif, Wahrheit I. Antike. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12: W – /. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 2005, Spalte 48 – 54

Jan Scaif, Die Geschichte des Wahrheitsbegriffs in der klassischen Antike. In: Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit. Herausgegeben von Markus Enders und Jan Szaif. Berlin : de Gruyter, 2006 (De-Gruyter-Studienbuch), S. 1 – 32

Wahrheitsbegriff der Sophisten

Die Sophisten hatten anscheinend einen relativistischen Wahrheitsbegriff oder zumindest keine Gedanken, von denen aus einem Relativismus, bei dem nebeneinander alles, was irgendjemandem so zu sein scheint oder irgendjemand meint, als wahr stehenbleibt, entgegengetreten werden konnte.

Wahrheit wird damit relativ, nämlich auf die Wahrnehmenden und Meinenden bezogen.

Von Protagoras gibt es den sogenannten Homo-mensura-Satz (FVS DK 80 B 1):

πάντων χρημάτων μέτρον ἐστὶν ἄνθρωπος, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν, τῶν δὲ οὐκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν.

„Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß/wie sie sind, der nicht-seienden, daß/wie sie nicht sind.“

Nach Darstellung Platons ist Protagoras der Auffassung, es könne keine falschen Vorstellungen geben (Platon, Theaitetos 167 a – b [Sokrates in einer Rede, die zeigt, wie Protagoras seine Theorie verteidigen könnte]). Etwas, das nicht ist, oder etwas, das anders ist als das, was durch Wahrnehmung erfahren wird, könne nicht gemeint werden. Es gebe nur bessere Vorstellungen, nicht wahrere. Was jeder Staat für gerecht und schön hält, sei dies auch, solange er daran glaube (Platon, Theaitetos 167c; 172a – b).

Wahrheitsbegriff des Sokrates

Was Sokrates unter Wahrheit verstand, kann am ehesten noch aus seiner grundsätzlichen Auffassung zu Erkenntnis/Wissen gefolgert werden.

Sokrates hat offenbar einen ontologischen Realismus (es gibt eine von einem Subjekt unabhängige Außenwelt) und einen erkenntnistheoretischen Realismus (Erkenntnis über die Wirklichkeit ist zumindest in Annäherung grundsätzlich erreichbar) als Überzeugung gehabt.

Seine Versuche, in Gesprächen Meinungen zu überprüfen und zu Erkenntnissen zu kommen, wären sonst sinnlos gewesen.

Sokrates hat nicht grundsätzlich eine Erkennbarkeit der Dinge bestritten und verneint. Eine Annäherung an die Wahrheit hat er sich und anderen zugetraut. Allerdings hat er eine Einsicht in Grenzen des eigenen Wissens und damit Vermeidung von Selbstüberschätzung betont (Platon, Apologie des Sokrates 21 d). Bei Menschen hat er anscheinend dabei eine nur vorläufige und nicht völlig gewisse Erkenntnis zu wesentlichen Dingen angenommen, keine endgültige Erkenntnis der Wahrheit mit unumstößlicher Gewißheit (dies ist nach seiner Auffassung auf Gottheiten beschränkt, die vollkommen sind).

Chairephon, ein Freund des Sokrates, so erzählt er, befragte das Orakel des Gottes Apollon in Delphi, ob jemand weiser sei als Sokrates, und die Antwort war ein Nein. Sokrates, der sich ursprünglich nicht für weise hielt, hat im Gespräch geprüft, ob andere Menschen (insbesondere Handwerker, Dichter und Politiker) Wissen haben (dabei ging es um Fragen wie die nach dem Guten, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, der Besonnenheit und Ähnliches). Den Orakelspruch hat er schließlich so gedeutet, darin weise zu sein, sich der Grenzen seines Wissens bewußt zu sein und nicht ein bloß scheinbares Wissen für richtiges Wissen zu halten. Sein Name sei nur als Beispiel dafür genannt worden. Im Gegensatz zu anderen, die meinen, etwas zu wissen, es aber nicht wirklich tun, meine er auch nicht, über etwas wissend zu sein, worüber er kein Wissen hatte. Insofern hat er anderen etwas an Weisheit voraus.

Platon, Apologie 21 d sagt Sokrates nach einem prüfenden Gespräch mit einem Politiker:

„Es scheint ja freilich keiner von uns beiden etwas Schönes und Gutes zu wissen, aber dieser meint, etwas zu wissen, ohne darüber ein Wissen zu haben, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also wenigstens um ein kleines Stück weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen meine.“

Sokrates hatte die philosophische Haltung, etwas nicht einfach ungeprüft als sicheres Wissen gelten zu lassen und keine scheinbaren Selbstverständlichkeiten ohne Beweise zu übernehmen. Er stellte also vermeintliches Wissen in Frage und wies oft ein bloßes Scheinwissen nach. Eine Methode in seinen Gesprächen war, einen bloßen Anschein von Wissen durch Überprüfung als Nichtwissen nachzuweisen, um so über das Erkennen des Nichtwissens als erreichte Einsicht einen Weg zu wahrhafter Erkenntnis zu öffnen. Die erste Stufe ist die Entlarvung eines vermeintlichen Wissens als mangelhaft, auf der zweiten Stufe (falls der Gesprächspartner dazu bereit ist) findet ein Neuaufbau statt.

Sokrates hat mit der »Was ist X«-Frage/»Was ist das«-Frage (»X« bzw. »das« steht für einen Begriff) eine Suche nach Wahrheit unternommen. Anscheinend hat er zugrundegelegt, bei sinnvollen Begriffen gebe es ihnen entsprechende Sachverhalte. Dies deutet auf eine Auffassung vom Wahren als eine Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit.

Widersprüchlichkeit hat er anscheinend als Widerlegung beurteilt. Wahrheit hat er für stimmig und widerspruchsfrei gehalten.

Sokrates hat wie die Sophisten den Standpunkt vertreten, die Menschen hätten in wesentlichen Dingen kein völlig sicheres Wissen und eine solche Erkenntnis sei für sie nicht erreichbar. Damit teilt er mit den Sophisten einen Standpunkt von einer nur relativen Sicherheit des Wissens. Eine mehr oder weniger große Annäherung an die Wahrheit hält Sokrates allerdings für möglich.

Ein Gegensatz zu zumindest einigen Sophisten besteht bei Sokrates darin, nicht alles nebeneinander als wahr gelten zu lassen, was irgendjemanden so erscheint bzw. irgendjemand meint. Mit Widersprüchlichem hat sich Sokrates nicht zufriedengegeben, sondern sein Ziel war echtes Wissen.

Klaus Döring, Sokrates, die Sokratiker und die von ihnen begründete Tradition. In: Sophistik, Sokrates, Sokratik, Mathematik, Medizin (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 2/1). Herausgegeben von Hellmut Flashar. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1998, S. 159: 

„Wenn Sokrates es für prinzipiell unmöglich erklärt, dass ein Mensch Wissen davon erlange, was das Gute, Fromme, Gerechte usw. sei – nur darum geht es ihm; in bezug auf die Dinge im allgemeinen wurde die Frage nach dem Wesen erst von seinen Schülern gestellt und erörtert -, dann meint er ein allgemeingültiges und unfehlbares Wissen, das unverrückbare und unanfechtbare Normen für das Handeln bereitstellt. Ein solches Wissen ist dem Menschen nach seiner Auffassung grundsätzlich versagt. Was der Mensch allein erreichen kann, ist ein partielles und vorläufiges Wissen, das sich, mag es im Augenblick auch noch so gesichert erscheinen, dennoch immer bewusst bleibt, das es sich im Nachhinein als revisionsbedürftig erweisen könnte. Je nach Anstrengung kann der Mensch auf dem Weg zum wahren Wissen mehr oder weniger weit vorankommen; das Ziel zu erreichen, ist ihm auf ewig versagt."

S. 161 – 162: „Sokrates ist überzeugt, dass der Mensch, mag er sich auch noch so sehr anstrengen, nie zu einem unverrückbaren und unanfechtbaren Wissen davon gelangen wird, was das Gute ist, sondern sich prinzipiell mit einem partiellen und vorläufigen Wissen bescheiden muss. Dieses unvollkommene Wissen in der Hoffnung, sich dem wahren Wissen wenigstens anzunähern, so weit es irgend geht, zu vervollkommnen, das ist der grösste Gefallen, den sich ein Mensch nach Sokrates' Auffassung selbst tun kann, da ein jeder desto besser und glücklicher leben wird, je weiter es es bei seinen Bemühungen bringt.“

S. 164: „Hat sich eine Erkenntnis in einer Vielzahl von Prüfungen immer wieder als nicht widerlegbar erwiesen, dann kann sie zwar nicht als unumstössliches Wissen gelten - ein solches ist nach Sokrates' Auffassung ja auch allein Gott vorbehalten -, wohl aber ein hohes Mass an Gewissheit für sich beanspruchen. Zu den Erkenntnissen, denen in diesem Sinne ein hohes Mass an Gewissheit zuzusprechen ist, gehört die, daß man, wenn man sich nicht selbst schaden will, niemals wissentlich Unrecht tun (ἀδικεῖν) bzw. niemals anderen Böses zufügen (κακουργεῖν, κακῶς ποιεῖν) darf, auch dann nicht, wenn einem selbst Unrecht widerfahren bzw. von anderen Böses angetan worden ist (PLAT. Crit. 49a4-c11), und dass daher nicht, wie man üblicherweise glaubt, das Unrechtleiden (ἀδικεισθαι) das Schlimmste ist, was es für einen Menschen gibt, sondern das Unrechttun (ἀδικεῖν) (PLAT. Gorg. 508d6- 509c3). Diese Erkenntnis, von der Sokrates in Platons ‹Gorgias› sagt, dass es sich bei ihr selbstverständlich nicht um etwas handle, was er (sc. im strengen Sinne) wisse, dass sich bisher aber jeder, der das Gegenteil habe beweisen wollen, lächerlich gemacht habe (508e6-509a7), bildet den Hintergrund für die Überlegungen, die Sokrates über die Frage anstellte, wie man sich als Angehöriger einer Polisgemeinschaft den Institutionen und Organen dieser Polis und deren Geboten und Forderungen gegenüber zu verhalten habe, also für das, was man die 'politische Philosophie' des Sokrates nennen mag.“

PLAT. Crit. = Platon, Kritias  

PLAT. Gorg. = Platon, Gorgias 

sc. = scilicet (nämlich, das heißt, sprich, selbstverständlich)

amelieeeee2211 
Fragesteller
 21.10.2019, 06:28

Vielen vielen Dank!

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