Mit was wollt ihr gesehen werden?

9 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Ich habe heute kein Idealbild mehr, außer dass ich als seriös und solide wahrgenommen will und als ich selbst - so wie ich bin. Und ich weiß, dass das auch tatsächlich so ist und die Leute mich so sehen, wie ich bin und dass sie das okay finden. Die Leute wissen, dass ich beruflich was zu melden und zu bieten habe - und sie wissen, was ich kann und was ich für einer bin. Ich bin nicht besser als andere, aber auch nicht schlechter. Ich brauche auch keine Statussymbole und muss keinem gefallen ... es ist mir auch nicht peinlich, in einem alten Audi 80 rumzufahren - im Gegenteil, ich stehe zu ihm und ich finde das echt okay. Ich muss mich nicht anbiedern und sonst wem imponieren.

Als Jugendlicher hatte ich dennoch wie so viele irgendwie schon den Wunsch, Popsänger zu sein, reich, berühmt, einflussreich, gut angezogen, erfolgreich und beliebt. Da mischte aber was anderes mit: Ich war ein Ausländerkind nach dem Motto "born on the wrong side of town". Da zählen andere Werte als in einer bürgerlichen gepflegten Reihenhaussiedlung. Da will man immer "besser sein" und hat "Sehnsucht nach was Besserem" und würde davor fast jedes Hindernis in Kauf nehmen wenn man wüsste, es wird danach tatsächlich endlich gut. Ich habe es mir wie nicht wenige meiner Freunde (meist Russlanddeutsche) auch mal gewünscht, wie Dieter Bohlen/Blue System (das war in den 90ern so unser Held) geachteter Popsänger in einem schicken Anzug zu werden, viel Geld zu verdienen, Geld für Anzüge und Schmuck und Krawatten und Autos zu haben - oder zumindest den Leuten zu zeigen, was ich kann und dass ich nicht dieser Ausländer bin, sondern ein Typ, der auch was kann und jemand ist.

Ich wollte nicht als "der Ausländer" wahrgenommen werden und als Abschaum oder als einer, der oft unterschätzt oder auf seine Herkunft reduziert wurde, ich fand's aber als junger Erwachsener genauso schlimm und heftig, dass mich die Leute in meiner Heimatstadt eines Tages als "Akademikertrottel" und Besserverdiener sahen und als arrogant und überheblich, nur weil ich kein "geselliger Festlesgänger" war und in der Freizeit in Ruhe gelassen werden und einfach nur z.B. wandern gehen oder mit meiner Freundin was unternehmen oder halt einfach mal locker Spaß haben wollte.

Zu meiner Jugend noch etwas: Teure, exklusive Luxusgegenstände wie dicke Autos oder auch "Prominenz" als Popstar, Fußballer usw. wünschen sich meistens Jugendliche aus problematischen Verhältnissen. Sie verbinden mit Prominenz oder dem Erwerb von Statussymbolen und Luxusgegenständen Geld, Macht, Ehre, Ansehen, Wohlstand, emotionale und finanzielle Sicherheit, Achtung, Respekt, Verehrung und Bewunderung durch Andere - alles, was sie nicht haben. Die liegen abends mit dem MP3-Player im Bett und träumen, sehen sich auf der Showbühne aus vollem Halse singen während die Feuerzeuge in der ausverkauften Arena brennen oder bei YouTube durch die Decke gehen und von allen bewundert werden.

So ein Wunsch hängt mit fehlender psychischer Stärke in jungen Jahren zusammen, aber auch mit der typischen (unsicheren) Vita vieler Leute gerade aus dem Milieu, die sich dann über Konsum oder oberflächliche Beliebtheit/Ruhm und Anerkennung, die sie da wo sie herkommen nie erhielten, definieren und meinen, alles was ihnen in der Vergangenheit vielleicht auch an Mobbing oder Unrecht angetan worden ist, damit kompensieren und vergessen zu können. So war es bei mir damals auch, ich stehe dazu und muss sagen - ganz schlecht war es nicht, weil es mich emotional angetrieben hat.

Ich wünschte mir als Jugendlicher so mit 17 Jahren ein "fettes" Auto und stellte mir vor, in einem Mercedes W124 (das war die alte E-Klasse, E200 oder so was) mit den schönen originalen Alufelgen und schwarzen Rücklichter und dunkel abgeklebten hinteren Fenstern rumzufahren und das in einem Anzug und einer echten Rolex am Handgelenk und einem schönen Hemd, dazu im Auto schön laut Dieter Bohlen Musik und irgendeinen 90er Eurodance zu hören und alle sehen das und sie denken sich ... boah, was für ein bärenstarker Typ, der fährt einen Benz, der hat einen Anzug, der hat's drauf, der hat sicher eine gute Arbeit und ist sicher nicht schlecht so auch als Typ.

https://www.youtube.com/watch?v=KM5A2djJnAM

Das ist natürlich absolut hirnrissig, aber viele dachten damals so in etwa und es war eben die Zeit. Mir ist das auch als Erwachsener immer noch nicht peinlich, ich kann auch dazu stehen, dass ich mir so was gedacht und erhofft habe.

Dahinter steckte ein Komplex: Ich als oft diffamierter Ausländer, mit dem es schon im Kindergarten kaum einer gut gemeint hatte, der oft nochmal extra seiner Herkunft und Familie wegen eine drauf gekriegt hat und über den sich sogar eine Lehrerin immer lustig machte, bis ich mal während des Unterrichts aufstand und ihr sagte, dass sie erstmal ihre eigenen Probleme lösen soll bevor sie sich über die Probleme anderer belustigt ... ja, ich hätte es mir gewünscht, dass man als Star oder als Fahrer einer fetten Karre, die auf Wohlstand schließen lässt, endlich ernstgenommen wird, was man im realen Leben oft nicht wird, wenn irgendwas nicht "passt", mal so gesagt. Ich glaube dass typische "deutsche Jugendliche" aus der Einfamilienhausfamilie mit christlich orientierter Vorzeigefamilie, soliden Berufschancen und mit "solidem" Leben, die geliebt und geschätzt werden und arriviert sind und keine Sorgen haben und wo der Vater ihnen eine Lehrstelle sowieso organisiert, sich solche Wünsche gar nicht einreden, weil sie das nicht brauchen und sich auch so angenommen fühlen. Die träumen eher von Studium, Beamtentum oder großes Haus auf der grünen Wiese und eigenem Pferd auf der Koppel und drei Kinder, die auch alle Abi machen werden - als davon, bei Dieter-Thomas Heck am Samstagabend in "Musik liegt in der Luft" tanzbare Popsongs zum Mitklatschen zu präsentieren und bunte Sakkos zu tragen, eine Rolex zu besitzen und einen Mercedes zu fahren. Die sind von Haus aus erfolgsverwöhnt und gefestigt genug. Wir aber fühlten uns von anderen vernachlässigt und abgehängt, nicht gewollt und nicht akzeptiert und nicht wertgeschätzt und wurden oft wie Deppen behandelt bzw. bekamen fast überall von Erwachsenen (nicht von Gleichaltrigen) zu spüren, unerwünscht und fast asozial zu sein oder schlechter als "gute deutsche Kinder aus selbstbewussten Traditionsfamilien" - wir wollten da einfach nur raus. Fette Autos sind ein großes Symbol, das Erfolg und den Ausweg verspricht.

Heute fahre ich nach der Arbeit manchmal echt noch rum und höre mit breitem Grinsen Dieter Bohlens alte Musik, fühle jeden Akkord mit, kann diese Nonsens-Texte von Dieter alle auswendig ... und wenn der "Chor" in diesem Lied kommt playbacke ich den auswendig mit und fühle mich, als wäre ich der Sänger selbst oder Mitglied des Chors vor diesem Publikum, finde es einfach Klasse und denke mir ... ach ja :-)

https://www.youtube.com/watch?v=BAhhKIUCl_A

Ja, da geht der Geist mit einem noch durch, aber schön ist es trotzdem. Mit den Jahren hat sich der Wunsch nach Prominenz und Macht usw. erübrigt & ich habe im Job und privat sowie als Gemeinderat usw. genug Selbstbewusstsein gesammelt und stehe zu mir. Ich habe kein Idealbild mehr, wenn man es so will, außer dass ich als seriös und solide wahrgenommen will und als ich selbst - so wie ich bin. Ich bin nicht besser als andere, aber auch nicht schlechter.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Divanikima 
Beitragsersteller
 13.12.2024, 23:04

Du hast ja eine ganze Geschichte über dich geschrieben! Ich staune...hab alles gelesen. Ich glaube ehrlich gesagt, dass du schon immer noch den Wunsch hast gesehen zu werden ;-))

Aber danke für den interessanten Einblick in deine Jugend und alles, was da so gedanklich abgelaufen ist.

rotesand  14.12.2024, 18:31
@Divanikima

Ich weiß es ehrlich gesagt nicht - ich habe beruflich sehr viel erreicht und auch menschlich einiges vollbracht, ich werde geachtet und habe eigentlich das Bild, das ich mir als Jugendlicher gewünscht hätte ... ich werde als seriös, ordentlich, gepflegt, gebildet und freundlich wahrgenommen, bin aber auch einer, vor dem viele gewissen Respekt haben. Ganz ehrlich - ich wüsste nicht, ob ich das Bedürfnis hätte irgendwie noch zu "reüssieren" - ich habe eigentlich nix mehr zu beweisen.

Danke dafür, dass du alles gelesen hast - das ist sehr nett! Wünsche dir einen schönen dritten Advent!

Das sich wirklich mal ein Mensch mit mir beschäftigt und erkennt, daß ich unter meiner harten Schale, meinem rauen Ton, meiner direkten Art, selten öffentlich lache, ein Mensch bin, der tiefe Gefühle empfindet, verletzlich bin und eine sehr melancholische, beinahe traurige Ader in mir pflege.

Das ich mehr sehe im Leben, was das Auge im Stande ist, zu erkennen.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Weil, ist so! 😉

Divanikima 
Beitragsersteller
 07.12.2024, 21:31

Dringen deine Gefühle normalerweise nicht so nach außen? Wem gegenüber könntest du sie zeigen?

DerSpuk  07.12.2024, 22:30
@Divanikima

Nein, ich habe bzw musste lernen, meine Gefühle für mich zu behalten.

Letztendlich bin ich damit besser gefahren, als diese zu offenbaren.

Divanikima 
Beitragsersteller
 08.12.2024, 08:32
@DerSpuk

Wie schade. Aber das verstehe ich. Wenn man dadurch immer nur Ablehnung erfährt, ist das ein wichtiger Selbstschutz...

Ich finde es gut wie sie mich grade sehen.🙃🤫

Lg nichtnoetig ⭐️⚡️

Ich finde es eigentlich ganz gut wie ich gesehrn werde.

wenn die Leute bemerken, das ich viel über ein Thema oder eine Person nachdenke...