Kurzgeschichte über gerechtigkeit und ungerechtigkeit

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Hi, Joseph Roth: das falsche Gewicht. Gruß Osmond http://www.literaturhaus.at/buch/hoerbuch/rez/roth_gewicht/

Zitat:

Joseph Roth
Das falsche Gewicht

Gelesen von Hans Eckhart 4 Kassetten Spieldauer 270 Min. ISBN: 3-89614-122-8 Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen, 2001

"Es war einmal im Bezirk Zlotogrod ein Eichmeister, der hieß Anselm Eibenschütz. Seine Aufgabe bestand darin, die Maße und die Gewichte der Kaufleute im ganzen Bezirk zu prüfen. In bestimmten Zeiträumen geht Eibenschütz also von einem Laden zum andren und untersucht die Ellen und die Waagen und die Gewichte." Mit diesem märchenhaften Anfang und dem ruhig dahinfließenden Erzählton beginnt Joseph Roths Erzählung "Das falsche Gewicht", die nun auch als Hörbuch erschienen ist.

Erzählt wird die Geschichte des Anselm Eibenschütz, der auf Wunsch seiner Frau nach zwölfjährigem pflichtgetreuem Militärdienst die Armee verläßt und als Eichmeister in ein Städtchen in Galizien an der österreichisch-russischen Grenze der habsburgischen Monarchie kommt. Mit der schlichten Moral des Soldaten und einer tief verwurzelten Ehrfurcht vor dem Gesetz tritt Eibenschütz an, Recht und Ordnung durchzusetzen. Aber das Grenzgebiet ist eine düstere, eine "giftige Gegend", in der die Gesetze des Staates keine Gültigkeit mehr zu haben scheinen: "Denn die Leute in dieser Gegend betrachteten alle jene, welche die Forderungen an Recht, Gesetz, Gerechtigkeit und Staat unerbittlich vertraten, als geborene Feinde. Sie wogen in der Hand und sie maßen mit dem Aug. Es war keine günstige Gegend für einen staatlichen Eichmeister."

Eibenschütz steht als Vertreter der staatlichen Ordnung vor einer Aufgabe, die er nicht bewältigen kann, gerade weil er im Gegensatz zu seinem Vorgänger "nicht alt, nicht schwächlich, nicht trunksüchtig war, sondern im Gegenteil, stattlich, kräftig und redlich; vor allem: allzu redlich." Und dieses Aufeinanderprallen von Recht, Gesetz und Redlichkeit auf der einen Seite und dem von Not und Armut, aber auch von moralischer Indifferenz und Gewinnsucht geprägten Wesen der Zlotogroder Menschen auf der anderen Seite läßt den Eichmeister Eibenschütz das rechte Maß, die richtige Gewichtung nicht finden. Es wird ihm unmöglich, sein Denken und Handeln nach Maßen einzurichten, er verfällt zusehends, wird selbst zu einer zwielichtigen Gestalt, wie die Menschen, die ihn umgeben.

Da ist einmal sein Schreiber Nowak, der zwar Redlichkeit vortäuscht, aber die Arbeit des Eichmeisters desavouiert, seine Frau Regina, die Eibenschütz mit Nowak hintergeht und ein Kind von ihm erwartet und die Figur des Leibusch Jadlowker, der die verrufene Grenzschenke im Dorf Szwaby besitzt und der das Urbild menschlichen Lasters ist und die pure Anarchie verkörpert. Über Jadlowker lernt Eibenschütz die schöne Zigeunerin Euphemia kennen, deren Zauber er sofort verfallen ist und ihn zur völligen Unterwerfung und willenlosen Hingabe an sie führt: "Ach er war in einer gar schlimmen Lage, der Eichmeister Eibenschütz. Weh, sehr weh tat ihm sein eigenes Schicksal. Das Gesetz einzuhalten, war er entschlossen. Redlich war er, redlich und sein Herz war gütig und streng zugleich. Was sollte er machen mit der Güte und Strenge zugleich? Zu gleicher Zeit läutete in seinen Ohren das goldene Läuten der kleinen Ohrringe der Frau Euphemia." Um mit Euphemia Liebe und Glückseligkeit zu genießen, vernachlässigt Eibenschütz seinen Dienst als Prüfer. Der steigende Alkoholgenuß läßt den Eichmeister Gesetz und Gewissen zugunsten einer irrealen Wahnwelt Platz tauschen. Mit der willkürlichen Festnahme des Leibusch Jadlowker durch den Eichmeister sind die Grenzen zwischen Ordnung und Anarchie bereits verschwommen und gipfeln schließlich in der Maßnahme gegen den Laden der Familie Singer. Diese haben einen so armseligen Laden, "daß er sich sogar von den sehr armseligen dieser Gegend unterschied. So arme Leute gab es in der Gegend nicht, die bei Blume Singer eingekauft hätten. Und dennoch konnten sie immerhin noch leben - so hilft Gott den Armen. Ein klein wenig Herz schenkt Er den Reichen, deshalb kommt von Zeit zu Zeit einer von ihnen und kauft irgend etwas, was er nicht braucht und was er auf der Straße fortschütten wird." Aber der Rahm im Laden ist sauer, die Rosinen verschimmelt und die Gewichte falsch, weshalb der Eichmeister zur Amtshandlung schreitet und die Existenz der Familie Singer ruiniert - denn Gesetz ist Gesetz.

Die Staatsmacht hat ein letztes Mal die Gewichte geprüft und die Stärke ihrer Gesetze und ihrer Redlichkeit vorgeführt, indem sie den schwächsten Teil der Gesellschaft vernichtete. Dieses starre Festhalten an den Grundsätzen der Ordnung und die Maßlosigkeit des unbedingt geltenden Gesetzes erzeugt sogar beim Unterweltfürsten Jadlowker tiefe Verachtung. Er lauert Eibenschütz vor der Schenke auf und erschlägt ihn. Der Sterbende Eichmeister aber steht plötzlich selbst einem "großen Eichmeister" gegenüber, "dem größten aller Eichmeister", der nun über ihn zu richten hat.

In der abschließenden (zugegeben rätselhaften) Parabel bleibt zwar offen, worin die Richtigkeit und Falschheit von Gewichten und Maßen besteht - im Grunde wird in der Vision des Eichmeisters die ständig in der Handlung präsente Gleichgültigkeit zwischen Recht und Unrecht und Gut und Böse noch verstärkt -, wird Eibenschütz aber seine Unfähigkeit vor Augen geführt, außerhalb der Gesetzesgrenzen der Staatsmacht, die Zeichen des Lebens deuten zu können: "Die meisten sterben dahin, ohne von sich auch nur ein Körnchen Wahrheit erfahren zu haben. Vielleicht erfahren sie es in der anderen Welt. Manchen ist es aber vergönnt, noch in diesem Leben zu erkennen, was sie eigentlich sind. Sie erkennen es gewöhnlich sehr plötzlich, und sie erschrecken gewaltig. Zu dieser Art Menschen gehörte der Eichmeister Eibenschütz."

Joseph Roths Erzählung "Das falsche Gewicht" ist eine von vielen Editionen aus der Reihe Romane und Erzählungen des Verlags und Studios für Hörbuchproduktionen. Mit Hans Eckardt wurde ein Sprecher gewählt, dessen einfühlsame, lebendige und suggestive Professionalität bereits in über 100 Hörbuchproduktionen zum Ausdruck kommt. 270 Minuten zieht Eckhardt die Hörer in seinen Bann und vermittelt mit dem ungekürzten Text der Erzählung eindrucksvoll die wunderbare Sprache Joseph Roths aus einer lang vergangenen Zeit. Das Hörbuch bietet mit seinen märchenhaften Zügen, mit dem Gleichnischarakter und den Symptomen der Auflösung und des Niedergangs der mythisierten Ordnung des Vielvölkerstaates eine Vielzahl an Rezeptionsmöglichkeiten und ist vielleicht gerade deswegen eine schöne Alternative zu Großmutters Erzählungen vor dem Kaminfeuer an langen Winterabenden.