Ist das Karate in Cobra kai wirklich so?

1 Antwort

Ich hatte große Freude an der Serie - und war übrigens damals (1984) bei der Ausstrahlung des ersten Teils im Kino. Da war ich gerade 20 - Kinder wie die Zeit vergeht!

Inspiriert von "Mr. Miyagi" hatte ich mich dann entschlossen, Karate zu lernen - und war später selbst von 1999 bis 2010 zeitweise Übungsleiter.

Die Kampfszenen in "Cobra-Kai" sind natürlich stark durchchoreografiert, denn tatsächliche Zweikämpfe zwischen zwei erfahrenen Karatekämpfern sind - zugegeben - überaus unattraktiv - ähnlich dem Fechten. Die Bewegungen sind oftmals so schnell, dass auch das Auge des Kampfrichters zuweilen damit überfordert ist, festzustellen, wer zuerst den "Punkt" gemacht hat. Man erkennt auch gut, dass die Schauspieler vereinzelt nur sehr geringe technische Basiskentnisse besitzen, doch mittels flotter Musik und Geräuschunterlegung wirken die Bewegungen dann dynamischer als sie es sind.

Über das Kampfkunst/sportsystem Karate könnte ich lange philosophieren:

Ginge es nur um den rein sportlichen und körperlichen Aspekt, so könnte man genau so gut Kickboxing, Ringen oder Boxen betreiben, denn ein Karateka ist nicht per se fitter als diese Sportler.

Doch klassisch-traditionelle asiatische Kampfsportarten bieten durchaus unter dem mental-geistigen Aspekt eine Menge Punkte, die dich reifen lassen können; immer vorausgesetzt, du hast einen guten Lehrer - und nicht nur einen "Trainer".

Hier ein paar wichtige, beispielhafte Gesichtspunkte, chronologisch geordnet:

Punkt eins: Schalte den Alltag ab! Sobald der Schüler den Dojo betritt, grüßt er die Trainingsstätte an. Damit wird auch die schnödeste Turnhalle sofort zu einem ganz besonderen Ort. Durch das nachfolgende Ritual des "Seiza" Und "Mokuso" (= Kniesitz mit geschlossenen Augen) wird rituell der Alltag abgeschaltet und ab diesem Zeitpunkt gibt es nur noch "Karate", sonst nichts mehr.

Wobei das hilft, wirst du dich jetzt vielleicht fragen? Nur einmal zum Vergleich: Du hast ein Problem, das du nicht sofort lösen kannst, welcher Art auch immer. Das Wochenende steht vor der Tür - und normalerweise möchte man sich in einer solchen Lage das gesamte Wochenende das Hirn zermartern, wie man besagtes Problem aus der Welt schaffen könnte. Besser wäre folgende Vorgehensweise: Schalte am Wochenende den Alltag einmal komplett ab, geh in die Natur, genieße das Rauschen der Blätter im Wind und beobachte den Flug der Vögel. Genieße am Abend ein gutes Essen und ein gutes Gespräch mit Freunden oder der Frau - und schalte erst am Montagmorgen beim Weckerklingeln den Alltag wieder ein. Oft findest du dann einen einfacheren Zugang zu deinem vorherigen Problem und vielleicht auch eine Lösung. Das mal nur als Beispiel.

Punkt 2: Man wird nur miteinander besser, aber nicht gegeneinander. Es bringt einem Braungurt nichts, der im spielerischen Freikampf mit einem Beginner unbedingt zeigen möchte, was er alles "drauf" hat. Der Beginner ist ihm keine Herausforderung - und dieser kann ebenfalls auf diese Weise nichts lernen. Lösung: Der Braungurt nimmt sich ein wenig zurück - und lässt sich auch mal treffen (es geht ja nicht um die WM-Goldmedaille) - und der Neuling ist gut beraten, sich anzustrengen und zu konzentrieren, um daran zu wachsen.

Punkt 3: Disziplin und "Biss". Ja, ich weiß: Der Begriff "Disziplin" mag ein wenig negativ behaftet sein und klingt unsexy; viele denken sofort an "Kasernenhof und Strammstehen". Doch ohne Disziplin würde kein Mensch morgens beim Weckerklingeln aufstehen, um zur Arbeit (oder Schule usw.) zu gehen, - vom Duschen und Zähneputzen möchte ich gar nicht erst sprechen. Bedeutet: Um ein Mindestmaß an Selbstdisziplin kommt kein Mensch herum, und einem Karateka, der dreimal die Woche ein hartes Training durchzieht, sich ständig korrigieren lassen muss (dazu unten noch ein Wort), sich immer im Griff haben muss, auch im Zweikampf, erwachsen daraus eine Menge Vorteile, die im Alltag nützlich sind: Durchziehen, was man sich vornimmt (Gurtprüfung), sich emotional zurücknehmen, auch wenn es in dir brodelt (was du im freien Kampf lernst: Auch wenn du mal getroffen wirst, ist dein Gegner schließlich nicht dein Feind - nimm also den Treffer mit Gelassenheit und lerne daraus), respektvolles Miteinander und Vertrauen zu deinen Vereinsfreunden und vor allem zu deinem Lehrer. Zu guter Letzt auch das tun, was der Lehrer sagt, ohne alles diskutieren zu wollen (wenn es nicht gerade grober Unfug ist, aber dann solltest du eh den Verein wechseln).

Punkt 4 (und dann höre ich auch auf, obwohl mir bestimmt noch einiges einfällt: Korrektur ist Wertschätzung. Viele Schüler lassen sich nicht gerne korrigieren, frei nach dem Motto: - Der hat ja an allem was zu meckern - . Doch wird dabei verkannt, dass der korrigierte Schüler dem Lehrer wichtig ist, sonst würde er sich nicht so ausgiebig mit ihm beschäftigen. Wäre ein Schüler einem Lehrer "egal", würde dieser das Korrigieren einstellen. Gerade die technisch ausgereifteren Schüler werden im Trainingsbetrieb oft besonders häufig und genau korrigiert, insbesondere dann, wenn es auf eine Gurtprüfung oder einen Wettbewerb zugeht. Doch nur daran können sie wachsen - und nehmen jede Korrektur dankbar an. Doch das ist ein Lernprozess, der aber später im Leben hilfreich sein wird.

Ich hoffe, damit konnte ich die Sache ein wenig anreißen und dir weiterhelfen.

Good luck und "oss"!

Woher ich das weiß:Hobby – 1. Dan Shotokan-Karate, ehem. Übungleiter
M3rl1n  27.01.2021, 14:22

Selten eine bessere Beschreibung gelesen was Karate ausmacht, oder fast noch wichtiger. Was Karate nicht sein sollte.

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