Existentialismus - Kritik?

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Der Existentialismus möchte die konkrete Existenz des menschlichen Individuums in den Mittelpunkt stellen und zum Ausgangspunkt machen. Damit wird das persönliche, individuelle, einmalige, subjektive Dasein als bedeutungsvoll ernstgenommen. Allgemeine Wesensbestimmungen, Sinnaussagen und Systeme können bei einer schlechte Art des Denkens so etwas vernachlässigen, Theorien auf unpassende Art überstülpen und auf einen Rest, dem sie nicht erfassen, gar nicht achten. Der Existenzialismus ist eine Gegenwendung.

Eine Vorbehalte äußernde Kritik am Existenzialismus kann darauf hinweisen, wie Begrenztheiten des Ansatzes übersehen werden oder nicht durchgehalten werden. Gleichsam unter der Hand kommt es auch zu allgemeinen Aussagen, für die nach dem eigenen Standpunkt keine zulässige Grundlage besteht. Es kann eine Neigung beobachtet werden, aus subjektiver Existenz und Zeitlichkeit allgemeine, überzeitliche Wesensbestimmungen zu entwickeln (mit Hang zu irrationalen Ansichten, auf versteckte Weise auch bei Sartre). Ein Lebensvollzug und die subjektive Sichtweise darauf reichen aber nicht aus, um die Wirklichkeit überhaupt zu erfassen. Ohne eine Wahrheitstheorie kann kein Versuch unternommen werden, die Wirklichkeit in einer objektiven Sichtweise zu erfassen. Existenzialisten müssen Auffassungen über die Wirklichkeit voraussetzen, ohne diese Voraussetzungen deutlich zu erklären oder zu begründen, wenn sie tatsächlich alles aus der Existenz ableiten wollen.

Wenn an den Menschen ihre Unbestimmtheit (sie sind nicht festgelegt, sondern entwerfen, wie leben wollen) hervorgehoben wird, tritt auch eine Neigung hervor, dies als Wesensbestimmung zu verwenden, was innerhalb des Existentialismus nicht folgerichtig ist und ein dafür ungeeignetes Merkmal heranzieht (nur etwas Bestimmtes ist als Wesensmerkmal geeignet, nicht eine bloße Unbestimmtheit).

Ganz grundsätzlich wird die existentialistische Aussage, die Existenz gehe der Essenz voraus, von idealistischer Ontologie und Erkenntnistheorie bestritten. Ein naheliegender Einwand von dieser Seite ist, an der Existenz könne überhaupt nur etwas über ein Erfassen von etwas Bestimmten, Allgemeinen, Wesenhaften, mit sich selbst Gleichen, so etwas wie einer Idee, erkannt werden. Eine Besonderheit ist kaum als erkennbar und mit einer Seinsgrundlage ausgestattet denkbar, wenn nicht Merkmale an ihr vorhanden sind, die zugleich einen Sachgehalt bilden, der auch anderswo auftreten kann und bei dem es jeweils neben dem Individuellen des besonderen Dinges etwas Gemeinsames gibt.

Bei der Freiheit wird die subjektive Setzung hervorgehoben. Darin steckt ein abstrakter Gedanke und daher kann eingewendet werden, der Existenzialismus beziehe sich auf eine bestimmte sehr allgemeine Ebene und vernachlässige andere Inhalte und Probleme. Grenze der Freiheit als eine Faktizität ist nach existenzialistischer Auffassung für die individuelle Existenz die Situation. Dazu ist ein Verhalten möglich. Die tatsächlichen Lebensumstände und Einflüsse spielen für die Freiheit eine Rolle. Der abstrakte existenzialistische Freiheitsbegriff bezieht sich auf eine andere Ebene, nicht auf diese Freiheitsspielräume. Er ist auch nicht weiter inhaltlich bestimmt und es fehlt eine inhaltliche Begründung, warum das Überschreiten in einer subjektiven Setzung gut sein soll. Für die Anwendung gibt es nur das unklare Kriterium der Authentizität. Eine Möglichkeit, das Handeln an unbedingt Geltendes zu binden, fehlt.

Ein möglicher Vorwurf ist Subjektivismus und Mangel an einer rational begründeten umfassenden Ethik. In Entschlossenheit und Engagement als solchen steckt noch keine inhaltliche Ausfüllung (ein philosophisch begründetes Wozu).

Einzelne existenzialistische Ansätze lassen sich in das Philosophieren integrieren, ohne insgesamt einen Existenzialismus zu vertreten.

Albrecht  28.04.2012, 03:02

Vittorio Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie : Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik. 3., um ein Nachwort für diese Ausgabe erweiterte Auflage. München : Beck, 1997 (Beck'sche Reihe ; 1174). S. 59 (analytische Philosophie/Szientismus und Existenzialismus als scheinbar entgegengesetzte Strömungen, die zueinander komplementär sind):
„Denn sosehr etwa Szientismus - eine der typischsten Erscheinungen der analytischen Philosophie – und Existentialismus einander entgegensetzt zu sein scheinen, so sehr kommen sie doch in der Überzeugung überein, daß eine rationale Begründung von Werten nicht möglich sei: Der Szientismus übernimmt in dieser Version den Part der Analyse der Wertferien Wissenschaft, der Existentialismus gibt sich mit den irrationalen und nur subjektiv gültigen Entscheidungen für Werte ab, die die eigene Lebensführung bestimmen sollen.“

S. 123 (keine der wirkungsmächtigen modernen Philosophien versucht die Ethik in wirklich befriedigender Weise zu begründen): „Im Marxismus ist die Ethik Teil der Geschichtsphilosophie; und im Szientismus und kritischen Rationalismus hat sie als objektive Theorie ebensowenig Raum wie im Existenzialismus und in der Hermeneutik.“

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Das Problem des Existentialismus ist, dass der Begriff nicht abgegrenzt ist. Sartre spricht (siehe Zitat helisua66) ausdrücklich von "atheistischem Existentialismus", was auch auf Camus zutrifft, der natürlich von der theistischen, idealistischen Seite grundlegend kritisiert wird. Dass "die Existenz der Essenz vorausgeht", ist materialistisch und wird natürlich fundamental von der theistischen und idealistischen Grundeinstellung (Metaphysik) angezweifelt und verworfen.

Selbst der christliche Existentialismus geht davon aus, dass wir erst im Erleben leben und begreifen, erst recht in der Reibung zum Anderen und zu Grenzsitzationen (Tod, jede Begrenzung). Das ist eine DIESSEITIGE Grundeinstellung, eine Auseinandersetzung mit dem Leben aus dem JETZT heraus. Das ist unakzeptabel für jemanden, für den der Mensch ein Entwurf Gottes ist oder gar "die beste aller denkbaren Welten".

Aber ein Satz wie "Wenn aber wirklich die Existenz der Essenz vorangeht, ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist" ist Sartre, der würde so nicht von Camus unterschrieben. Für Camus gibt es dazwischen immer noch den unkalkulierbaren Einbruch des ABSURDEN, der nicht glatt aufgehen lässt, was sich der Mensch so vorstellt. Wer allerdings Sartres Romane und Theaterstücke liest, merkt, dass er selbst es so glatt nicht gemeint haben kann. Da war er viel näher an den Verwerfungen des Lebens. Da spielt das Leben, da spielen die anderen schon eine eigene Geige. Doch der oben zitierte Satz ist eingeflossen in den Kult des Existentialismus (z.B. Juliette Greco), den Versuch, ein "intellektuelles Lebensdesign" umzusetzen.

Das Problem mit der Kritik ist, aus welcher Einstellung heraus? Für einen Kantianer sind Existentialisten einen Tick zu emotional. Für Schopenhauerfans sind sie zu optimistisch. Für Nietzsche-Fans haben sie zu viel Kierkegaard und Akzeptanz der christlichen "Schuldideologie", zuviel christliche Unterwürfigkeitsmoral. Für Postmoderne nehmen sie zu eindeutig Stellung. Das geht mit jeder Philosophie so, es hagelt Kritik von allen Seiten, doch muss man immer auch sehen, was die Kritiker selbst vertreten, und was das mit ihrem eigenen Standpunkt zu tun hat.

Das Wesen des Existentialismus hat sein Hauptvertreter Jean Paul Sartre so definiert:

Der atheistische Existentialismus, den ich vertrete... erklärt, daß, existiert Gott nicht, es zumindest ein Wesen gibt, bei dem das Sein dem Wesen vorhergeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendwelche Vorstellung definiert werden kann, und daß dieses Wesen der Mensch ist oder, nach Heidegger, die menschliche Wirklichkeit. Was bedeutet es hier, daß die Existenz der Essenz vorhergeht? Es bedeutet, daß der Mensch zuerst existiert, in der Welt angetroffen wird und auftaucht und daß er sich erst nachher bestimmt. Wenn der Mensch, wie ihn der Existentialist begreift, nicht bestimmbar ist, so darum, weil er zuerst nichts ist. Er wird erst nachher sein, und er wird der sein, zu dem er sich machen wird... Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht. Dies ist der Hauptsatz des Existentialismus. Dies heißt man auch Subjektivität, die man uns unter eben diesem Namen vorwirft... Wir wollen sagen, daß der Mensch zuerst existiert, d.h. daß der Mensch zuerst etwas ist, was sich seiner Zukunft zuwendet und sich bewußt ist, sich einer Zukunft zuzuwenden. Der Mensch ist zuerst ein Entwurf, der sich subjektiv erlebt, statt Moos, Moder oder ein Kohlkopf zu sein; nichts existiert vor diesem Entwurf; nichts ist am Verstandeshimmel, und der Mensch wird zuerst das sein, was zu sein er geplant haben wird... Wenn aber wirklich die Existenz der Essenz vorangeht, ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist... Subjektivismus will einerseits heißen Wahl der individuellen Person aus sich selbst und andererseits Unmöglichkeit für den Menschen, die menschliche Subjektivität zu überschreiten. Die zweite Bedeutung ist der tiefere Sinn des Existentialismus.

Aber diese Definition ist sehr angreifbar. Dazu verweise ich auf folgenden Essay:

http://www.hintergrundstrukturen.de/index.php?option=com_content&view=article&id=59%3Adie-inkarnation-des-ich&catid=36%3Aadmin-essays&Itemid=62&limitstart=4