Die Enzyklopädie?

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Aus 'Das Universum, das Ich und der liebe Gott' von Philipp Wehrli:

Der grosse Knall der französischen Aufklärung war ein Ereignis, das uns heute ganz harmlos erscheinen würde: 1747 fragte der Pariser Verleger André Le Breton Denis Diderot, ob er eine zweibändige englische Enzyklopädie übersetzen könne, welche geschichtliche, biographische und geografische Texte enthielt. Diderot, der bereits verschiedene ähnliche Arbeiten erfolgreich durchgeführt hatte, überredete Le Breton, das Projekt wesentlich auszuweiten. Nicht eine Übersetzung, sondern eine völlig neue Enzyklopädie wollte er schaffen. Le Breton willigte ein, und das Resultat übertraf alle Erwartungen: Unter der Leitung von Diderot und dem Mathematiker Jean-Baptiste le Rond d’Alembert schufen 142 verschiedene Autoren ein Gemeinschaftswerk, welches in fast 44‘000 Haupt- und 28‘000 Nebenartikeln das gesamte Wissen jener Zeit enthielt. Zu den Autoren zählten Berühmtheiten wie Montesquieu, Voltaire und Rousseau, eine Reihe von Wissenschaftlern, Philosophen und Gelehrten aus ganz Europa, aber im gleichen Rang neben diesen Grossen auch eine Reihe einfacher Handwerker. Mehr als 3000 Artikel schrieb Diderot selbst. Daneben arbeiteten Zeichner, Kupferstecher, Schriftsetzer, Drucker und Buchbinder an diesem Projekt.
Dieses Werk wurde zu einem Grundpfeiler der französischen Aufklärung. Für Handwerker war es zwar viel zu teuer, nur Gutbetuchte konnten es sich leisten. Die Enzyklopädie war aber gar nicht als Handbuch für Handwerker gedacht. Es war vielmehr ein Symbol. Es war eine für jedermann deutlich sichtbare Machtdemonstration. Es bewies, dass das Wissen nicht mehr bei den Kirchengelehrten lag, sondern bei den gewöhnlichen Bürgern, bei den Handwerkern, bei den Naturwissenschaftlern und den weltlichen Gelehrten.
Mit subversiven Querverweisen übte Diderot ausserdem harsche Kritik an der Kirche und dem Glauben, etwa, wenn er das christliche Abendmahl mit Kannibalismus in Verbindung setzte, weil die katholische Kirche ja (bis heute) darauf besteht, dass sich beim Abendmahl das Brot in Fleisch und der Wein in das Blut Jesu verwandle.
Die Artikel der Enzyklopädie wurden in Salons und Cafés diskutiert. Dass sie von der Zensur immer mal wieder verboten wurden, machte die Lektüre nur umso reizvoller. Hilfreich war insbesondere, dass der oberste Zensor der Enzyklopädie eigentlich wohlwollend gegenüberstand und persönlich darauf achtete, dass die Zensur nie wirklich griff und dass immer nur die Dinge verboten waren, welche für den Druck und die Verbreitung gerade unbedeutend waren.
Schon die Autorenschaft der Enzyklopädie war ein Gesellschaftsmodell von revolutionärer Sprengkraft. Seit Paulus verglich die Kirche die Gesellschaft mit dem menschlichen Körper. Wie der Mensch Arme und Beine braucht, welche die Muskelarbeit verrichten, und einen Kopf, der dirigiert, denkt und entscheidet, so brauchte auch die Gesellschaft Arbeiter und Gelehrte. Jahrhundertelang schien klar, dass die Denker und Lenker die Priester und Bischöfe sein müssen, mit dem Papst als oberster Instanz. Schon Paulus hatte davor gewarnt, dass einfache Leute predigen und denken, obwohl sie dazu nicht berufen sind.
Die Enzyklopädie zeigte ein ganz anderes Bild. Gleichwertig standen die Artikel von Kirchengelehrten und Adeligen neben denen einfacher Handwerker. Es war offensichtlich, dass das Wissen der Handwerker dem der Kirchengelehrten zumindest ebenbürtig war. Dass wissenschaftliche Beobachtung die Jahrtausende alten Behauptungen der Kirche erschütterten oder gar widerlegten, machte die Schlussfolgerung nur noch zwingender: Die Kirche hatte das Monopol auf Wissen und Denken verspielt. Eine grundsätzlich neue Gesellschaft war gefordert.