lass mich damit anfangen, einige falsche Annahmen auszuräumen in deiner Frage:
Genau ein solches Herrschaftssystem wird von Muslimen angestrebt, die Gesetzgebung der Scharia.
Falsch. Du warst im ersten Satz in der Lage, das Christentum differenziert zu betrachten. Du hast herausgehoben, dass diejenigen, die nicht gerade demokratisch eingestellt waren "Hardcore-Christen" waren. Das ist in islamischen Glaubensrichtungen nicht anders. Genauso wie bei den Christen sind 95% einfach anständige Menschen, die ihr Leben führen, ihren Glauben unterschiedlich und unterschiedlich stark ausleben, anderen aber ihren Glauben genauso lassen. Alles andere würde ja auch nicht funktionieren, wir haben über 1 Milliarde Menschen auf diesem Planeten, welche muslimischen Glaubens sind. Wären die alle so, wie der Deutsche Michel es beim Stammtisch behauptet, wäre die ganze Welt längst unterjocht. Die Frage, die also bleibt ist: warum stellst du die Gesamtreligion Islam (die genauso wie das Christentum aus vielen unterschiedlichen Strömungen besteht und sehr unterschiedlich ausgelebt wird) mit einer kleinen christlichen Splittergruppe gleich? Du musst schon Islam und Christentum vergleichen, um ähnliche Dimensionen zu haben.
Viele Muslime kommen zum Teil aus fürchterlichen Diktaturen, die einen staatlichen Islam präsentieren. Wenn ich meine muslimischen Arbeitskollegen frage, so ist nicht die Staatsform oder die Scharia schuld, sondern die, die das Land und den dortigen Islam repräsentieren, im Grunde bräuchte es nur einen gütigen Diktator und alles ist gut. Dass eine Diktatur Korruption, Vetternwirtschaft und ein repressives System unterstützt, fördert und stützt, das sehen sie nicht.
Auch wir kommen aus einer fürchterlichen Diktatur. Und hätten die damaligen Besatzer nicht das Vertrauen in uns gehabt (beschönigt gesprochen), dass wir demokratiefähig sein können und demokratisch erzogen werden können, würden wir noch heute unter amerikanischer und russischer Herrschaft stehen. Gestehe diesen Menschen doch auch zu, dass sie Demokratie lernen können, wie wir Deutschen es auch tun konnten.
Ist der Islam (so wenig wie das radikale Christentum) überhaupt in der Lage demokratisch zu funktionieren?
Aus Politikwissenschaftlicher Sicht kannst du das "radikale" streichen. Denn in der politischen Theorie gilt einzig das evangelische Christentum als nicht demokratiehindernd. Alle anderen großen Weltreligionen gelten als demokratiehindernd, da sie alle ein antipluralistisches Weltbild vertreten. Es gibt die Idealvorstellung eines Menschen, Demokratie lebt aber von Unterschiedlichkeit. Wenn also alle Religionen demokratiehindernd sind, wir trotzdem aber in weiten Teilen der Erde Demokratien bilden konnten, müssen wir uns zwangsläufig fragen: wie kann das sein? Der erste Teil der Antwort ist simpel: der Einfluss der Religion auf die Demokratiefähigkeit wird in der Gesellschaft massiv überschätzt. Er mag eine Rolle spielen, aber keine, die groß und stark genug ist um Demokratien bzw. Demokratisierungsprozesse aufzuhalten. Der zweite Teil ist schon schwieriger und wird spekulativer, wobei auch hier weitestgehend ein Konsens herrscht: der bedeutendste Faktor für Demokratisierung ist Wohlstand. Und daran mangelt es in vielen muslimisch geprägten Ländern bzw. wenn es Wohlstand gibt dann ist der sehr zentralisiert bei wenigen Personen zu finden. Um in diesen Ländern die Demokratisierung zu fördern müsste man also dafür sorgen, dass der Wohlstand gerechter verteilt wird.