Wie können Menschen aus verachtetsten sozialen Kreisen in kultivierteste soziale Kreise aufsteigen?

4 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Sozialer Aufstieg ohne Vitamin G (Geld) ist eine langwierige Sache. Auch muss man von seinen alten Kontakten leider Abstand nehmen. Die Großteil der Menschen verurteilen sehr schnell. Egal was die meisten sagen, jemanden dessen Umfeld hauptsächlich aus Bettlern besteht, wollen viele nicht Mal eine Chance geben denke ich mir. Die Frage ist, wie wichtig es dir ist.

Mir ist das gelungen, aber es war harte Arbeit und es war auch Glück dabei, geschenkt bekommt man definitiv nichts. Zu meinem Werdegang: Ausländerkind, beim Opa aufgewachsen aufgrund verschiedener innerfamiliärer Konflikte und Probleme - ich bekam es schon im Kindergarten oft zu spüren, weniger wert zu sein oder ungern gesehen zu sein aufgrund meiner Herkunft und Familie ... ich wurde schon im Kindergarten von einer Erzieherin gezielt erniedrigt und in der Realschule ging es weiter, weil der Konrektor ein Problem mit meiner Familie hatte und es für angebracht hielt, 30 Jahre nach einer Sache, wegen der er sich benachteiligt gefühlt hat, sowohl meinen Cousin als auch mich fertig zu machen, weil er unserer gemeinsamen Oma weh tun wollte. Auch bei Eltern von Mitschülern hatte ich zumeist ein schlechtes Ansehen wegen meiner Herkunft. Teilweise wird auch Neid dabei gewesen sein, weil ich ein guter Schüler war.

Da gab es aber auch ein Problem: Wenn ich irgendwas vorlegen musste, das benotet oder bewertet wurde war es bei manchen Lehrern selbst dann, wenn es objektiv und anerkannterweise sehr gut war, nicht gut genug bzw. wenn ein "guter Deutscher" eine ähnliche oder ggf. schlechtere Leistung erbracht hat, war sie in den Augen der Erwachsenen gut und in Ordnung. Ziemlich offensichtlich wurde das tatsächlich auch bei meiner Abschlussprüfung der Realschule bei der Fremdkorrektur durch einen Lehrer, der mich nicht kannte und eine ganze Note besser bewertet hat als die Lehrerin von meiner Schule, die sich gern auch im Unterricht über mich lustig gemacht hat bzw. mich mit albernen Ausländer-, Osteuropa- und Russland-Klischees diffamierte. Das war absolut unmöglich, aber es war halt so. Es war Standard in der Zeit. Den Mund aufgemacht hätte damals übrigens keiner, die meisten Erwachsenen hätten uns "Ausländern" sowieso das Wort im Munde rumgedreht.

Ich hatte zwar eine schöne Kindheit, aber es war nicht immer angenehm, so aufzuwachsen und wissentlich die A...-Karte gezogen zu haben, man war oft der Trottel vom Dienst und bekam extra aus Prinzip nochmal eine reingewürgt, wo es nur ging. Ich weiß, wie es von ganz unten aussieht, wenn man nicht mehr weiß, wo es langgeht und nur noch Angst hat - da will ich nie mehr hin, aber ich habe es nie vergessen. Ich bin heute durch Fleiß, Ehrlichkeit, gute Arbeit, aber auch durch viel Glück und vier tolle Fürsprecher, die es gut mit mir meinten und mich förderten (mein Opa, mein Onkel, ein Lehrer und ein Diakon) im Beruf und als Typ durchaus "was geworden".

Bei der Lehrstellensuche hat sich ein Berufsberater dennoch über mich lustig gemacht und gesagt, dein Zeugnis ist zwar super und du hast eine tolle Handschrift, aber mit dem Namen und der Adresse kannst du dich drauf einstellen, dass das nix wird - er hat mit Flayer von einem "EQ Praktikum" mitgegeben und mich zu einem Bildungsträger geschickt, zu ich aus Anstand gegangen bin, der mir aber auch durch die Blume sagte ... das wird schwierig, melde dich am besten bei einer Schule an, dich nimmt so im Grunde keiner. Eine andere Berufsberaterin war noch viel blöder, ich will es nicht wieder geben. Übrigens habe ich dank guter Noten und Bewerbungen eine gute Lehrstelle bekommen und lernte Industriekaufmann - Abschluss als einer der Besten, prämiert mit einem Buchpreis. Der Lehrer und der Diakon waren immer an meiner Seite und haben immer an mich geglaubt.

XXX

Mein beruflicher Aufstieg begann letztlich ein gutes Jahr nach der Ausbildung, nachdem ich mich umorientiert habe und als Quereinsteiger eine Stellung fand, die zu meinen Talenten und meinem Charakter offenbar noch besser passte als gedacht. Ich bin über die Jahre weiter aufgestiegen, auch nach meinem Umzug vor einigen Jahren fand ich rasch Anschluss (gute Referenzen, gute Projekte, gute Kontakte). Inzwischen habe ich die höchste Stellung im Betrieb inne, die ein Nichtstudierter haben kann und werde entsprechend entlohnt.

Zu meinem sozialen Marktwert bzw. Stellenwert, den ich sozial wohl haben muss, reicht eine Anekdote aus: Ein bekannter internationaler und auch in Deutschland gut etablierter Serviceclub, in den man eingeladen werden muss (da kann man nicht einfach hingehen und sagen, ich will Mitglied werden) wollte mich vor geraumer Zeit unbedingt als Mitglied haben, ich lehnte es ab - ich weiß zwar, dass ich einen gewissen Stellenwert habe und bin mir dem auch bewusst, ich weiß aber, dass diese ganzen Honoratioren mich so, wie ich eigentlich bin kaum hinnehmen würden und bei meiner Herkunft nur mit der Nase rümpfen würden. Die sehen meine Arbeit, meinen Einfluss, meinen Siebener-BMW und ähnliches, aber das ist mir zu oberflächlich und ich möchte mit solchen Leuten nicht befreundet sein.

Was Kultur angeht: Ich kann mitreden, weil mein Opa sehr viel Wert auf Bildung legte und ich auch gewisses Interesse schon immer hatte an kulturellen Dingen. Ich muss aber damit nicht kokettieren, weil ich keiner bin, der damit prahlen muss, was er alles weiß. Ich weiß, dass ich in meinem Umfeld für mich spreche, ich kriege das ja auch mit. Neulich war ich auf einer Veranstaltung, wo ich mit einem Mann sofort bestens klar kam - hinterher erfuhr ich, das ist ein Psychologe, sehr renommiert, sehr gediegen, gilt aber auch als schwierig - komisch, ich hatte mit ihm sofort ein gutes Gespräch und eine Basis, die Chemie stimmte sofort. Eine Kommunalpolitikerin - eine Art ehrenamtliche Bürgermeister-Stellvertreterin, die sich zur Feier des Tages einen Blazer angezogen hat zu Jeans und Turnschuhen und ein sprachlich objektiv indiskutables Grußwort ablieferte, begegnete mir hingegen gespielt kühl und unfreundlich, so als habe sie Angst vor mir oder sehe mich als einen Intellektuellen an, obwohl ich mal so ins Blaue sagen würde ... die Dame stammt sicher aus einer gutbürgerlichen Dorffamilie, auch dem Namen nach und ihrem Auftritt nach, ich kenn die Leute doch in ihrer Art, und musste sich nie die Sorgen machen, die ich mir oft machen musste in meiner Kindheit und Jugendzeit. Wer weiß, vielleicht hat sie mich gesehen, als ich aus dem Siebener-BMW stieg und war erbost, weil der ebenfalls anwesende Landtagsabgeordnete mich beim Eintreten in den Raum sofort per Du grüßte (der Typ ist echt okay) und sie in ihrem Dünkel nicht die erste Geige spielte.

Und ich weiß, dass einigen Leuten aus meinem früheren Umfeld mein Erfolg und mein Aufstieg sehr weh tun und es die volle Klatsche zurück ist. Ich bilde mir nicht viel drauf ein, weil ich mir alles selbst erarbeitet habe - aber ich habe nie vergessen, wie es bei mir angefangen hat und dass dieser Weg sicher nicht selbstverständlich ist.

XXX

Dieser einen Berufsberaterin, die mich vor rund 20 Jahren mehr oder weniger belächelt hat und mich noch nicht mal ernst nahm, weil ich ihr als "Ausländerkind" aus nicht gerade den besten Verhältnissen als hoffnungslos erschien, weil ich ihr die Zeit nicht wert war, weil ich ihr zu lumpig war und die mir weismachen wollte, dass ich es "schwer haben werde" und die mir nur von der Agentur für Arbeit finanzierte EQ-Praktika für 200 Euro pro Monat vorschlug, statt wirklich zu helfen, würde ich gern heute mit meinem schwarzen Aktenkoffer, meinem Sakko, meinem Siebener-BMW und meinen Visitenkarten sowie einem Portfolio großer und öffentlichkeitswirksamer Projekte unter meiner Verantwortung begegnen. Ich würde sie auf einen Kaffee einladen und ihr zeigen, was ich alles durch Fleiß, Ausdauer und meine von vielen Leuten doch sehr geschätzte Art erreicht habe - denn es ist mehr, als sie in ihrem Büro- und Lehrstellenbörsenjob erreicht hat.

Andererseits habe ich es gar nicht nötig und allein der Gedanke macht mich total zufrieden, dass ich mehr erreicht habe, als viele jemals gedacht hätten und dass mein damals bester Kumpel und ich - wir waren oft die Loser in der Klasse, die auf der Strecke blieben und es trotzdem durchgezogen hatten - heute hinsichtlich der Lebensbilanz die "Chefs" der Klasse sind. Es ist unser beider später moralischer Sieg und wir haben beide nie wissentlich einem weh getan - falls doch, dann nicht absichtlich.

Deine Frage ist übrigens sehr gut, danke dafür. Sie hat jetzt aber doch manchen Gedanken in mir herausprovoziert und Spaß würde es insgeheim vielleicht sogar machen, der damals doch auf freundliche Art herablassenden (das war das Perfide, die wirkte nett, aber ich merkte schnell, sie lacht mich nur aus und macht sich mehr oder weniger über meine problembehafteten Familienverhältnisse lustig) Dame zu zeigen, was ich heute bin und was sie heute ist ... ich weiß, dass die den Job immer noch macht. Aber ich habe es wie gesagt nicht nötig. Der Diakon und der Lehrer sind übrigens immer noch an meiner Seite und ich weiß, was ich ihnen zu verdanken habe, aber ich weiß mit Sicherheit auch, was ich selbst erreicht habe und was ich kann (aber ebenso, was ich nicht kann, so viel Anstand muss man haben).

XXX

Eines habe ich nie vergessen: Als ich beruflich erfolgreich wurde, war ich in meiner Heimatstadt für die Meisten (bis auf ganz wenige, die mich wirklich mochten, z.B. diesen Diakon) mehr oder weniger reich gewordener Abschaum - bis ich dann wenige Jahre später dann zwar immer noch ein "Ausländer" war, aber dann doch so einer war, an dem sie nicht mehr vorbeikamen und den sie zähneknirschend akzeptieren mussten ... dann war ich in deren Augen entweder der "Akademikertrottel" oder aber, wenn sie was von mir wollten, der "hoch-hoch-hoch-studierte tolle Redakteur, der immer so nett ist und dabei doch so bescheiden blieb". So viel Falschheit muss man sich erst mal leisten können, da hat sich keiner mit Ruhm bekleckert. Ich bin froh, dass ich sauber geblieben bin.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Ich bin vom gleichen Jahrgang wie Du!

Damals war es noch ein Privileg eine höhere Schule besuchen zu dürfen.

Dennoch - jeder Mensch sollte sich vornehmen der Gesellschaft etwas bieten zu wollen - ein Talent, eine Fähigkeit, seine Arbeitskraft. Das schafft ein positives Selbstwertgefühl und beugt Verbitterung vor.

Ich gebe Bettlern selten Münzen, auch weil ich mittlerweile erkennen kann, dass das Gesammelte in Alkohol umgesetzt wird. Wenn aber jemand ein Instrument spielt und sei es Blockflöte oder Gitarre dann klingelts im Beutel - meist quittiert mit einem Lächeln.

Ich hatte vor langer Zeit fast 6 Jahre in einer Obdachlosenunterkunft gearbeitet. Alle die sich vornahmen seßhaft zu werden bekamen ordentliche kleine Wohnungen und die Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Doch die meisten waren irgendwann über Nacht wieder verschwunden - überraschend und ohne Druck von außen.

Jeder ist also doch seines Glückes Schmied....


Nobodyrotz 
Beitragsersteller
 29.05.2025, 08:47

Wenn Du mein Schicksal oder auch nur winzige Teile davon kennen würdest, würdest Du vor Schreck einen Schlaganfall bekommen.

Evtl. verhältst und / oder kleidest du dich deinem „Geburtsmilieu“ entsprechend und bleibst deswegen hängen


Nobodyrotz 
Beitragsersteller
 29.05.2025, 08:48

Meine Gesundheit wurde durch Gewalt ruiniert.