Thomas Hobbes Leviathan?

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Den Grund der Titelwahl in vollem Umfang genau und sicher anzugeben, ist vermutlich unmöglich. Es gibt wahrscheinliche Erklärungen.

Leviathan ist ein in der Bibel (Altes Testament) erwähntes Ungeheuer (Hiob 3, 8; Hiob 40,25 – 41, 26; Psalm74 [73],15; Psalm 104 [103], 26; Jesaja 27, 1) und durch einen Bezug auf ein bekanntes Werk können eher viele Leute etwas mit dem Namen verbinden.

Das Ungeheuer erzeugt Schrecken und der Staat soll auch durch Einjagen von Schrecken Störungen eines inneren Friedenszustandes bezwingen.

Die Benennung nach dem riesigen und von einer irdischen Macht nicht überwindbaren Ungeheuer kann die gewaltige Größe und Kraft des Staates, wie er von Thomas Hobbes in der Darstellung seines Buches konstruiert wird, kennzeichnen. Leviathan ist Sinnbild für die im Staat gebündelte, vom Souverän ausgeübte Machtfülle, von der friedensstörende und zerstörerische Neigungen der Menschen gebändigt werden sollen, auch mit Gewalt und Drohung, wovon Schrecken ausgeht. Die Verhältnisse im 17. Jahrhundert mit starken politischen und religiösen Konflikten, die zum Teil zu Bürgerkriegen führten, konnten einen Wunsch nach einem machtvollen Staat, der innere Konflikte unter Kontrolle bringt, auslösen oder verstärken.

Thomas Hobbes, Leviathan Kapitel 17 (Entstehung eines Staates durch einen Gesellschaftsvertrag, der einen einzelnen Menschen oder eine Versammung als Souverän autorisiert/bevollmächtigt):

„This done, the multitude so united in one person is called a COMMONWEALTH; in Latin, CIVITAS. This is the generation of that great LEVIATHAN, or rather, to speak more reverently, of that mortal god to which we owe, under the immortal God, our peace and defence. For by this authority, given him by every particular man in the Commonwealth, he hath the use of so much power and strength conferred on him that, by terror thereof, he is enabled to form the wills of them all, to peace at home, and mutual aid against their enemies abroad.“

Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates : Teil I und II. Aus dem Englischen von Walter Euchner. Kommentar von Lothar R. Waas.1. Auflage. Berlin : Suhrkamp, 2011 (Suhrkamp-Studienbibliothek ; Band 18), S. 166 – 167:

„Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken. Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf übertragen worden sind, daß er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken.“

Der Souverän in der Staatskonstruktion besitzt höchste Gewalt, nur Gott als nichtirdische Instanz steht über ihm (bei Leviathan ist es Gott, der ihn besiegen wird).

In Büchern gibt es teilweise weitergehende Deutungsversuche, z. B.:

Otfried Höffe, Thomas Hobbes. Originalausgabe. München : Beck, 2010 (Beck'sche Reihe ; 580), S. 48 – 49:

„Hobbes selber bezieht sich nur auf das Buch Hiob, dessen Titelfigur ein «Musterjude» ist, ein Gerechter: rechtschaffen und gottesfürchtig zugleich. Von dem Ungeheuer, genannt Leviathan, heißt es dort in Kapitel 41, Vers 25: es lebe «auf Erden nicht seinesgleichen, geschaffen ist es, um sich nie zu fürchten». (In der 1611 autorisierten und zugleich maßgeblichen King James-Bibel «Upon earth there is nothing like, who is made without fear.») Nach dem nächsten Vers ist Leviathan «König über alle Kinder des Stolzes» (englisch «he is king over all the children of pride»). Die Botschaft ist unmißverständlich: Für Hobbes symbolisiert Leviathan die unüberwindliche Macht, die sich im Staat bündelt, und im Souverän als Monarch Person wird.

Erstaunlicherweise taucht der titelgebende Name im ganzen Buch nur dreimal auf. Nach der Einleitung ist er «ein künstlicher Mensch», wenn auch von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche». Hier greifen drei Bilder ineinander. Das biblische Bild des Leviatan verschränkt sich mit dem technizistischen Bild oder Maschinenbild des technisch Gemachten, des selber Geschaffenem, und zusätzlich mit Platons Bild der größeren Gestalt. Denn nach einer berühmten Stelle in der Politeia (II 368 f.) sind die Gerechtigkeit von Individuum und Staat einander analog, beim Staat ist sie aber in größeren Buchstaben zu lesen […]. Das erste Bild ist am wichtigsten. Das Künstliche, Maschinelle visualisiert zwar den Machtapparat eines funktionierenden Staates und Platons Bild weist auf dessen jedes Individuum betreffende, existentielle Bedeutung. Aber erst der Leviathan verbildlicht die Ambivalenz: daß der Staat dank seiner überragenden Macht ein Ungeheuer ist, das sowohl den ständig drohenden Bürgerkrieg überwindet als auch alle Individuen vereinnahmt. Die Folge aus dieser Ambivalenz zieht Hobbes nicht: daß der Staat kein Ungeheuer bleiben darf, das bloß zu fürchten, das vielmehr auch zu zähmen ist.

Nach der zweiten Stelle, in Kapitel 17, erscheint allerdings die Zähmung als überflüssig. Denn durch einen Vertrag, den jeder mit jedem abschließt, entsteht jene repräsentative Person, die die Vertragschließenden zu einer einheitlichen Person, einer Körperschaft, dem Staat, zusammenfügt. «Um respektvoller zu reden», qualifiziert Hobbes die neue und künstliche Person als einen sterblichen Gott, dem wir – nur diese Zähmung erkennt der Philosoph an – unter dem unsterblichen Gott Schutz und Frieden verdanken.

Die Gottheit im Ausdruck des sterblichen Gottes steht für den Gehorsam, den der staatliche Souverän für die Gesetze von den Untertanen verlangt. Seine Gottheit ist in zweierlei Hinsicht als sterblich zu verstehen. Die Souveränität ist zeitlich vergänglich; vor allem erläßt sie nur positive Gesetze, die einer höheren Autorität unterworfen sind, dem unsterblichen Gott, vor dem die positiven Gesetze auf normative Vorgaben, die natürlichen Gesetze zu verpflichten sind. Auch Hobbes’ Staat ist also gebunden, die Bindung findet aber nur außerstaatlich, ja außerinstitutionell. Lediglich in dem vor Gott verantworteten Gewissen statt. Nach irdischen Kriterien bleibt der Satt eine Autorität ohnegleichen […]. Obwohl der Leviathan qua Gott als heilig erscheint, ist er jedoch schwächer als der wahre Gott: Auch die Staatsmacht hat noch einen Herrn über sich – aber nicht auf Erden.

Daß der Leviathan «König über alle Kinder des Stolzes» ist, wie der Hiob-Text an der dritten Stelle zitiert wird […], bedeutet auf Hobbes’ Staatsphilosophie übertragen, daß der Souverän nicht etwa bloß ein zeitgenössisches Problem zu lösen, nämlich den Hochmut und die Eitelkeit des Adels und der hohen Geistlichkeit zu brechen hat. Ihm obliegt die allgemeinmenschliche Aufgabe, die tendenziell unbeschränkte Handlungsfreiheit jedes Menschen zu überwinden. Und für diesen Auftrag soll er die höchste, sowohl stärkste als auch zugleich ungeteilte Macht werden.“

S. 49: „Der Philosoph will seinen bibelkundigen Zeitgenossen erklären, daß es eine singuläre Macht gibt, die zwar allen Menschen, aber nur den Menschen überlegen ist, da noch eine Macht, Gott, über ihm steht.“

Hasso Hoffmann, Zur politischen Theologie von Thomas Hobbes. In: Summa : Dieter Simon zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Rainer Maria Kiesow, Regina Ogorek, Spiros Simitis. Frankfurt am Main : Klostermann, 2005 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte ; Band 193), S. 285 - 286:  

„Um die (fast) grenzenlose Machtfülle seiner Staatskonstruktion zu charakterisieren, gab Hobbes ihr den Namen des biblischen Seeungeheuers Leviathan. Beim Propheten Jesaja (17, 1) bezeichnet er Schlangen und Drachen – Mächte der Welt, die Gott demütigen wird. Im gleichen Sinn spricht der Psalmist (74, 14) von einem Walfisch. Hauptfundstelle aber ist das Buch Hiob. Dort wird in 30 Versen, gleichnishaft für die Allmacht Gottes, die allen menschliche Fähigkeiten und Begriffen spottende Gewalt dieses riesigen Untiers geschildert. Abschließend heißt es in Kap. 41 nach dem Text der Septuaginta: Non est potestas super terram, quae comparetur ei. Und so steht die Zeile samt Fundstelle über dem Titelkupfer des Werkes. Darauf erscheint freilich kein Seeungeheuer, sondern ein Riese mit den Insignien weltlicher und geistlicher Gewalt. Vielleicht hat sich Hobbes mit der Beschwörung des Leviathan-Symbols überhaupt vergriffen: Der biblische Text spricht in Bildern des Leviathan indirekt von der menschlich unfassbaren, aber von Fall zu Fall unwiderstehlich fühlbaren Größe und Gewalt Gottes – der Text von Hobbes über die von den einzelnen Menschen ebenso übermächtige Organisation mit der höchsten und umfassendsten Kompetenz auf Erden, dies aber im Klartext und nicht nur bildlich und vergleichsweise. Insofern ist die Bezeichnung Leviathan zwar anschaulich, hat aber genau genommen etwas Herabsetzendes für den Souverän als den irdischen Stellvertreter Gottes, der seiner begrifflichen Natur nach ewig ist wie der Herr des Himmels selbst, anders als dieser allerdings durch Gewalt zerstört werden kann. Eigentlich müsste das Werk daher den Titel Der sterbliche Gott tragen. Aber der Anspruch, einen sterblichen Gott nicht notwendig monarchischer Gestalt konstruiert zu haben, wäre vielleicht doch ein wenig gewagt gewesen. So wird der angemessen respektvolle Titel erst im Kapitel 17 über die Entstehung des Staates mit jener Hobbes’schen Beiläufigkeit eingeführt, die das Ungeheure dämpft. Dort schreibt er […] über die Staatschöpfung durch den sog. Herrschaftsvertrag als «die Entstehung jenes großen Leviathan oder besser jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und unsere Sicherheit verdanken.» Hier haben wir nun das richtige Begriffspaar: sterblicher Gott - unsterblicher Gott, und nicht sterblicher Leviathan – unsterblicher Leviathan.“

Horst Bredekamp, Thomas Hobbes, Der Leviathan : das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder ; 1651 – 2001. 4., korrigierte Auflage. Berlin : Akademie-Verlag, 2012, S. 61 (anknüpfend an Thomas Hobbes, Leviathan, Einführung, in der dieser schreibt, durch Kunst werde die Natur auch darin nachgeahmt, ein künstliches Tier herausstellen, alle Automaten hätten ein künstliches Leben, und die Kunst gehe weiter, indem sie den Menschen nachahmt, denn durch Kunst werde jener große Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der nichts anderes sei als ein künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche Mensch, zu dessen Schutz und Verteidigung er ersonnen wurde):

„Der Grund, aus dem Hobbes sein Werk mit dem Namen des Hiob im Gewittersturm erscheinenden „Leviathan“ überschrieb, wird hier erstmals angedeutet. Die Verwandtschaft der Civitas mit dem alttestamentlichen Ungeheuer liegt offenbar darin, daß dieses bei wörtlicher Lesart an einen mächtigen Automaten erinnert: „Sein Herz ist so hart wie Stein und so fest wie ein Stück vom untersten Mühlstein. Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken, und wenn er hereinbricht, so ist keine Gnade da. Wenn man zu ihm will mit dem Schwert, so reget er sich nicht, oder mit Spieß, Geschoß und Panzer. Er achtet Eisen wie Stroh und Erz wie faules Holz. Kein Pfeil kann ihn verjagen und die Schleudersteine sind ihm wie Stoppeln.“ Es wird an dieser Verbindung des organischen Lebens und anorganischer Härte gelegen haben, daß Hobbes seinem übermächtigen Staatsautomaten den Namen des biblischen Monstrums gab.“

S. 67 (zu einer Anpassung von Motiven der hermetischen Tradition, mit Bezug aus der Schrift „Asclepius“ aus dem „Corpus Hermeticum“): „Mit Hilfe des „Asclepius“ vermochte Hobbes den Begriff des sterblichen Gottes mit dem Gedankenbild eines riesigen, das Geschick des Staates lenkenden Automaten zu verbinden, die monströse Form des „Leviathan“ in eine menschliche Gestalt zu verwandeln und die von Descartes definierte Schere zwischen Automat und Vernunftwesen zu schließen. Durch die Überführung der belebten, menschenähnlichen, mit Geist und Seele versehenen, Unbilden von der Gemeinschaft abwehrenden, der Vorhersage fähigen und als gerechte Richter wirkenden Statuen in die Automatengestalt des „Leviathan“ hat Hobbes die Staatenlenker des „Asclepius“ mit Motiven der mechanistischen Moderne aufgerüstet. In der kunsttechnologischen Unbefangenheit der hermetischen Überlieferung konnte Hobbes das Stichwort zur Errichtung seiner Version des „sterblichen Gottes“ finden, und indem er die ägyptischen Staatsidole auf das moderne Staatswesen projizierte, erzeugte er einen der folgenreichsten Querschläger der europäischen Geistergeschichte.“

S. 67 – 68: „Für Hobbes ist der Staat nicht das gottgegebene oder natürliche Produkt des zoon politicon, das organisch aus dem mitmenschlichen Zusammenleben herausgefiltert werden kann, sondern ein widernatürliches, artifiziell als Kunstwerk zu schaffendes Gebilde. Nur als künstliche Form ist der Staat für Hobbes in der Lage, die zerstörerische Natur des Menschen zu befrieden, und zu dieser Bändigungsfunktion gehört auch, daß er der analytischen Erkenntnis fähig ist und bleibt. Der Mensch aber kann, dies ist Hobbes im Vorwort von „De homine“ betonter Grundsatz, nur jene Bereiche begreifen, die er selbst geschaffen hat: „Eine demonstrative Erkenntnis a priori ist uns daher nur von Dingen möglich, deren Erzeugung von der Willkür der Menschen selbst abhängt.“ Der Staat ist allein dadurch versteh- und beherrschbar, daß er nicht natürlich erwachsen ist, sondern als Kunstwerk entstand. Das Bild des Leviathan ist der Repräsentant dieses naturnotwendig künstlichen Artefakts.“