Sprachensterben pro und contra?

4 Antworten

"Ich glaube kaum, dass es da irgendwelche Vorteile gibt."

Nun denn -- ein extrem großer Vorteil wäre: Wenn alle Sprachen bis auf eine ausstürben (!), dann hätten wir den Turm zu Babel überwunden! Wir würden uns überall auf der Welt mit dieser einen verbliebenen Sprache verständigen können. Wäre das nicht ein extrem großer Vorteil?

Ein bisschen weitergedacht:

  1. Man muss prüfen, wie viel unreflektierte Sozialromantik in der Angst vor dem "Sprachensterben" drinsteckt. Heißt:
  2. Man muss genauer hinschauen. Welche Sprache ist wann warum und mit welchem Effekt ausgestorben? (War's vielleicht doch nur ein Dialekt, der in den letzten Jahren von 384, 383, ... Menschen gesprochen wurde?)
  3. Oder ist eine Sprache nur in Teilsprachen zerfallen?
  4. Ein immer mich immer wieder faszinierender inverser Einzelfall: Die Rekonstruktion des Ivrit aus einer toten Religionssprache. Israel hat seine Standardsprache aus der Totenkammer zurückgeholt! (Wir Könnten es ja, vergleichbar, mal mit dem Kirchenlatein versuchen und daraus Europäisch machen!)

Zu 1-3: Wenn das Norn ausgestorben ist, dann wird das heute kaum jemand vermissen. Es sei denn aus prinzipiellen Gründen, weil nichts, aber auch gar nichts vergehen soll. (Siehe das mit dem Sozialromantischen!)

Latein ist in die romanischen Sprachen zerfallen. Ist es damit "ausgestorben" oder hat es Kinder bekommen und ist dann den Weg alles Irdischen gegangen?

Nicht vergessen: Die modernen Nationalsprachen sind relativ junge, merkwürdige Gebilde. In der Regel eine Vereinigung von vielen Dialekten in 1 Sprache. Wobei meist ein führender Dialekt zum Standard wurde. (Das Toskanische in Italien, das Hannover-Stadtdeutsch in Deutschland. -- BTW Vergesst die Mär von der sächsischen Kanzleisprache! Das war was künstlich Geschriebenes. Höchstens. Sächsisch hat sich in den letzten 300 Jahren kaum verändert. Es war und ist -- von außen besehen -- ein lustig klingender Dialekt.)

Und noch mal weiter: Viele Dialekte sterben aus (Norddeutschland) oder werden durch das Fernsehen und überhaupt: "die Medien" mit der Zeit stark ausgedünnt und verwässert (Süddeutschland). Auch da wird manchmal sogar von staatswegen dagegengehalten. Wahrscheinlich vertane Liebesmüh.

Also, Schlusspunkt, realistisch: Englisch zur Weltsprache zu machen, auch wenn dann ca. 700 Sprachen aussterben -- gar keine schlechte Idee. Nur eben nicht politisch durchsetzbar. Allein schon wegen der Franzosen. ;-)

Woher ich das weiß:Berufserfahrung
Piinguin123  30.05.2019, 11:37
Latein ist in die romanischen Sprachen zerfallen. Ist es damit "ausgestorben" oder hat es Kinder bekommen und ist dann den Weg alles Irdischen gegangen?

Aus linguistischer Perspektive etwas.. theatralisch. ;-)

Latein ist ausgestorben. Außerdem sind die romanischen Sprachen auch nicht aus dem entstanden, was in der breiten Öffentlichkeit als "Latein" bezeichnet und an Schulen unterrichtet wird. Das klassische Latein wäre - um bei deiner Metapher zu bleiben - maximal die "Tante". :-)

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Patscherkofl  30.05.2019, 13:21
@Piinguin123

Das mit dem theatralisch -- akzeptiert.

Das andere, das mit den Latein-Nichten auch; aber da kommen wir zu schnell ins ganz Fachliche. Wohl hier nicht ganz die Komplexitätsebene der Wahl. (Wenn wir einen linguistischen Aufsatz über Sprachverwandtschaftsmetaphern schreiben, gebe ich irgendwann doch zu bedenken, ob statt Tanten nicht doch Urur...großeltern / -enkel besser wäre. Von wegen der zeitlichen Abfolge und der angeheirateten Einflüsse anderer. :-) )

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Piinguin123  30.05.2019, 14:04
@Patscherkofl

Sprachverwandtschaftsmetaphern sind unwissenschaftlich.. also würde man auch keinen linguistischen Aufsatz dazu schreiben.. ;-)

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Patscherkofl  30.05.2019, 19:42
@Piinguin123

"Sprachverwandtschaftsmetaphern sind unwissenschaftlich."

Na, das wüsste ich aber! Im Gegenteil, die Sprachwissenschaft strotzt nur so vor Bildern und Mdtaphern. Ist nicht die "Verwandtschaft" schon eine? Ich weiß gar nicht wo anfangen. Beim Sprach"verfall"? Oder der "Blüte"zeit? Und ich hab vor fünf Jahren ein Aufsätzlein zum Metaphorischen bei de Saussure gelesen. Usw. Analogy, the Core of Cognition!

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Piinguin123  30.05.2019, 19:49
@Patscherkofl

Sprachverwandtschaftsmetaphern

= à la "Latein = Mutter"

:-) Kommst du aus der Germanistik?

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plusnull  30.05.2019, 11:43

Dazu ein klares "Jein".

Ich würde schon ganz gerne meine Lieblingssprachen erhalten. Neben Englisch sollten auch Russisch, Türkisch und Italienisch unbedingt weiterleben. Alleine schon wegen der vielen guten Musik in diesen Sprachen und den ständig neuen Titeln, die irgendwie zu Englisch nicht passen würden.

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Hier würde ich gerne mal eine Referenz für die weltbekannte Erzählung „Turmbau zu Babel“ angeben. Alle wissen, was wurde passiert, laut der Erzählung. Also klar, dass das Aussterben von Sprachen nicht toll ist. Solcherweise werden ja bestimmten ganz viele Kulturen vergessen. Hier wurden schon ganz viele Nachteile besprochen. Trotzdem ich habe doch ein Vorteil. Lassen wir uns ein bisschen träumen. Gehen wir mal in paar tausend Jahre vor. Logischerweise wird Englisch immer noch die internationale Sprache sein, und zwar die einzige. Alle überall sprechen nur Englisch und kennen nur diese. Welche Vorteile gibt es daran. Theoretisch werden die Menschen mehr sozialisierter, müssen dabei keine andere Sprache lernen, um sich in anderem Land wohl zu fühlen etc.

Aber, generell ist eigentlich eine schlimme Situation. Ich würde gerne auch meine Gedanken mit einem Zitat enden. „Wie viele Sprachen du sprichst, sooft mal bist du Mensch." (J.W.Goethe) 

Es bringt keinen praktischen Vorteil, an einer winzigen Sprache festzuhalten. Wenn Deutsch nicht von ca. 100 Millionen, sondern nur noch von 100tausend Sprechern gesprochen werden würde, dann gäbe es (fast) keine Bücher und keine Filme mehr auf Deutsch. Keine Geräte und keine Verpackungen wären mehr auf Deutsch beschriftet. Dann würde jedem die Lust vergehen, an der bisherigen Sprache festzuhalten und man würde auf die nächstgelegene Größere ausweichen.

Im Interesse des Erhalts von Kultur sollte man die Sprache rechtzeitig vor dem Untergang durch Ton- und Schriftaufzeichnungen umfassend dokumentieren.

Bei einer einzigen Sprache auf der ganzen Welt hätten wir natürlich keine Sprachenvielfalt mehr. Aber mit nur noch 100 Sprachen hätten wir sie durchaus. Also wenn von den ca 6000 derzeitigen Sprachen 5900 aussterben, wäre das immer noch keine Katastrophe.

Meine Lieblingssprachen sind sowieso alle groß und eindeutig unter den 100 größten. Sie werden nicht sterben!

DidiWeidmann  31.05.2019, 12:28

Lieber "Plusnull", Ihre absolut tragische Argumentation lässt sich direkt auf den Erhalt der Biovielfalt übertragen. Da könnten Sie dann sagen, es bestehe kein praktischer Vorteil, wenn es mehr als 10 Bienenarten gebe, ein Duzend Kartoffelsorten seien mehr als genug usw.! - Selbst wenn man durch Ton- und Schriftaufzeichnungen versucht Grammatik und Aussprache von sterbenden Sprachen zu konservieren, dann ist das eben auch nicht viel mehr, als ob man Ton- und Bildaufzeichnungen von aussterbenden Arten aufbewahrt. Mit jeder Sprache, die von unserem Globus verschwindet, verschwindet ein Stück des kulturellen Erbes der gesamten Menschheit. Es ist leider so, dass durch die heutige Sprachpolitik, genau so, wie Sie das richtig festgestellt haben, die kleineren Sprachen durch die Macht und Vorherrschaft der grösseren verdrängt und am Ende getötet werden. Die finnische Sprachwissenschaftlerin Tove Skutnabb-Kangas hat hierfür den Ausdruck "killer languages" geprägt.

Wollen wir das Sprachensterben verhindern und eine echte Vielfalt erhalten - eine Vielfalt, in der nicht nur die Dinosaurier unter den Sprachen eine Daseinsberechtigung haben -, dann benötigen wir eine gemeinsame Weltbrückensprache, welche nicht einer bestimmten ethnischen Gruppe gehört und schon gar nicht das Vehikel einer der imperialistischen Grossmächte ist, welche ihre Kultur der ganzen Welt aufdrängen wollen, eine Sprache die der ganzen Menschheit gehört. Diese Sprache gibt es, es ist Esperanto! Wenn alle Menschen neben ihrer Muttersprache Esperanto lernen, dann können sie sich auf gleicher Ebene begegnen, ohne dass der eine dem anderen seine Muttersprache aufdrängt, ohne dass der Muttersprachler gegenüber dem, der sich mühsam in einer für ihn fremden Sprache mit ihm zu unterhalten sucht, im klaren Vorteil ist. Ein Deutscher, der nicht als Kleinkind mit Englisch aufgewachsen ist, kann noch solange Englisch lernen, letztlich wird er in der direkten Kommunikation mit einem englischen Muttersprachler trotzdem immer der Fremdsprachler bleiben. Mit Esperanto ist das eben anders: Diese Sprache gehört keiner Ethnie und folglich verleiht auch nicht die Geburt das Recht, darüber zu bescheiden, was richtig ist und was nicht!

Ihre oben dargelegte These, den Erhalt einer Sprache nur noch durch ihren direkten ökonomischen Nutzen zu rechtfertigen, ist jedenfalls eine Haltung und Denkweise, die in keinster Weise der Unterstützung bedarf und grundsätzlich abzulehnen ist. Was Menschen auf unserer Welt anrichten, deren einziges Beurteilungskriterium der unmittelbare ökonomische Nutzen ist, das können wir leider heute sehen! Ich kann nur sagen: Wer die Biodiversität auf unserem Planeten retten will, dem muss auch der Erhalt der kleinen Sprachen wichtig sein. Ob die Rettung einer Sprache in jedem einzelnen Fall gelingen kann, sollte dabei für diese Bemühungen ebenso wenig ausschlaggebend sein, wie die Tatsache, dass man bei der Rettung zahlreicher Arten vermutlich versagen wird. Umgekehrt ist natürlich auch klar, dass dieser Kampf um das Überleben der Menschheit nur gewonnen werden kann, wenn sich die ganze Menschheit vereint. Eine solche Einheit ist aber nur möglich, wenn wir für die sprachliche Verständigung eine gemeinsame Sprache haben, die eben keiner bestimmten ethnischen Gruppe, sondern der gesamten Menschheit gehört. Mit Esperanto können wir die Einheit in Vielfalt verwirklichen.

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plusnull  31.05.2019, 14:17
@DidiWeidmann

Englisch betrachte ich weder als meine Muttersprache noch als Fremdsprache. Es ist eine Zweitsprache, auf jeden Fall aber auch "meine" Sprache. Sie gefällt mir, ich habe englische Songtexte vor allem als Jugendlicher intensiv gelesen. In vielen Urlauben habe ich mich mit anderen auf Englisch unterhalten. Deutsch können anderswo nicht Viele, Esperanto aber noch 100 mal weniger. Mehr als die Hälfte meiner Bücher sind auf Englisch und wenn ich nun Esperanto lernen wollte, würde ich das wahrscheinlich bei Duolingo mit englischer Unterrichtssprache machen. Mit Deutsch geht's da nicht. Aber ich hab das nicht gemacht, sondern testweise mal Türkisch begonnen. Das ist eben mein Nutzen-Denken, Türkisch ist weiter verbreitet als Esperanto. Klingt aber auch besser, längst haben türkische Songs die englischen meiner Jugend verdrängt. Aber es blieb beim Test, wenn man älter ist, lernt man nicht mehr so gerne.

Und dann die Sache mit dem Imperialismus. Irgendwie haben mich diese Großreiche der Weltgeschichte immer fasziniert: Das British Empire und das Mongolische Weltreich, das Alte Rom, das zaristische Russland und anschließend daran die Sowjetunion. Ich bin Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa und beschreibe auch ihre potentiellen Grenzen in imperialistischer Manier gerne mit "von Lissabon bis Wladiwostok und vom Eismeer bis nach Zypern". Die USE (jawohl, mit englischer Abkürzung) solle die USA in den Schatten stellen, so meine Vorstellung. Aber mit (angeblichem) Sprachimperialismus der US-Amerikaner hat das rein gar nichts zu tun. Nicht nur Donald Trump, sondern auch Noam Chomsky spricht Englisch als Muttersprache. Englisch ist nicht die Sprache einer bösen Ideologie.

Esperanto ist übrigens ebenfalls eine europäische Sprache, auch wenn da ein paar agglutinierende Elemente mit dabei sind. Jedenfalls hat es mit Chinesisch reichlich wenig zu tun. Mit Navajo und Pirahã, zwei Sprachen mit uns völlig fremdartig erscheinender Grammatik, bestimmt noch weniger. Und wenn in Englisch Muttersprachler zeigen, wie man es richtig spricht, dann finde ich das nicht falsch bzw. "von oben herab", sondern gut um mich selbst zu verbessern.

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Was ich also wissen möchte ist, ob man eine Sprache aussterben lassen sollte (pro) oder ob man sie retten sollte (contra)

plusnull  30.05.2019, 11:13

Das können nur die Sprecher der Sprache selber entscheiden. Wenn sie die Sprache bewahren wollen, sollte das der Staat unterstützen. Wenn sie es nicht wollen, sollte der Staat nicht aus eigener Initiative mit künstlichen Mitteln die Sprache am Leben erhalten.

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