Sentinelesen Inzuchtproblem?

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Inzucht führt nicht sofort zum Aussterben einer Population. Langfristig wirkt Inzucht sich schädlich auf die Entwicklung einer Population aus, weil die ständige Vermischung der immer gleichen Allele zu einem starken Anstieg des Homozygotiegrades führt. Das hat einerseits Folgen, weil Heterozygote oftmals flexibler auf ihre Umwelt reagieren können. Betrachtet man etwa das Immunsystem, hat es Vorteile, wenn möglichst viele Loci, die sich auf dieses auswirken, heterozygot sind. Auch sind heterozygote Träger gegenüber den Homozygoten oft in einem selektiven Vorteil (Heterozygotenvorteil), wie das etwa bei der heterozygoten Form der Sichelzellanämie der Fall ist, da heterozygote Träger resistenter gegen Malaria sind - während homozygote Träger entweder an Malaria oder an der Sichelzellanämie selbst sterben. Eng damit verknüpft ist der Umstand, dass viele Erbkrankheiten rezessiv sind und somit erst in homozygoten Individuen ausbrechen. Dabei bedeutet aber Inzucht nicht zwangsläufig, dass solche Erbkrankheiten auf jeden Fall auftreten. Inucht erhöht erst einmal nur die Wahrscheinlichkeit dafür.

Es kommt außerdem darauf an, wie nah verwandt zwei Individuen sind. Es macht eben einen Unterschied, ob Eltern mit ihren Kindern Nachwuchs zeugen oder ob beispielsweise Cousin und Cousine miteinander Nachwuchs zeugen. Der Grad der genetischen Verwandtschaft lässt sich angeben mit dem Inzuchtkoeffizienten r. Er ist ein Maß dafür, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Allel in zwei Individuen von einem gemeinsamen Vorfahren geerbt wurde. Ein r von 0.5, wie er z. B. zwischen Vollgeschwistern und Eltern und Kindern auftritt, bedeutet, dass ein Allel mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % eine gemeinsame Herkunft hat. Man kann es auch etwas anders lesen, nämlich als den Anteil der Allele, den zwei Individuen durchschnittlich miteinander gemeinsam haben. Beispielsweise Vollgeschwister teilen also 50 % ihrer Allele miteinander, aber auch Eltern mit ihren Kindern haben 50 % ihrer Gene gemeinsam.

Was bedeutet das nun z. B. für die Möglichkeit, eine rezessive Erbkrankheit zu vererben? Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei nicht miteinander verwandte Menschen beide ein rezessives Allel an ihren Nachkommen weitergeben, beträgt zwischen 2 und 4 %. Sie ist bei Verwandten natürlich dadurch erhöht, dass Verwandte mehr Allele miteinander gemeinsam haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Vollgeschwister ein rezessives Allel von ihren Eltern geerbt haben und beide an miteinander gezeugten Nachwuchs weitergeben, beträgt 25 %. Aber schon bei Cousin und Cousine 1. Grades beträgt die Wahrscheinlichkeit schon nur noch 6.25 % und liegt damit nicht mehr wesentlich höher als das gewöhnliche Risiko bei gar nicht Verwandten. Aus diesem Grund ist es z. B. in Deutschland völlig legal, dass Cousin und Cousine einander heiraten dürfen. Bei Cousin und Cousine 2. Grades ist das Risiko, rein rechnerisch, mit 1.56 % sogar schon kleiner als das Risiko zwischen NIchtverwandten.

Die Rechnung gilt aber nur, wenn man ein Gen betrachtet. Das reale Risiko abzuschätzen, ist etwas komplexer. Denn im Durchschnitt trägt ein Mensch nicht nur ein rezessives Allel einer Erbkrankheit in sich, sondern etwa sechs rezessive Allele. Gehen wir wieder vom Fall von Vollgeschwistern aus. Erinnern wir uns: im Durchschnitt haben Vollgeschwister 50 % ihrer Gene durch gemeinsamen Ursprung geerbt. Das heißt also, dass von sechs rezessiven Allelen drei davon in beiden Geschwistern vorkommen. Wie wir oben gesehen haben, werden in 25 % der Fälle beide Geschwister ein bestimmtes Allel vererben und in 75 % der Fälle nicht. Das reale Risiko lässt sich daher abschätzen, wenn wir die Einzelrisiken aller Gene miteinander multiplizieren:

 Mit einer Wahrscheinlichkeit von 42 % wird ein Kind demnach gesund sein. Mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit tritt eine der drei Erbkrankheiten auf, mit 14 %iger Wahrscheinlichkeit treten zwei und mit 2 %iger Wahrscheinlichkeit treten alle drei Krankheiten auf.

Nun kommt noch hinzu, dass viele Erbkrankheiten dazu führen, dass der Embryo bereits vor der Geburt abstirbt und es zu einer Fehlgeburt kommt. Es dürften daher wohl im Schnitt mehr Kinder gesund zur Welt kommen als das rechnerisch zu erwarten wäre (weil ein Teil der Kranken als Fehlgeburt gar nicht erst zur Welt kommt).

Auch bei der Abschätzung des realen Risikos gilt aber, dass das Risiko schon stark abnimmt, wenn der Verwandtschaftsgrad kleiner wird. Zwischen Cousin und Cousine dritten Grades beträgt r schon nur noch 0.0078, liegt also kaum höher als der r zwischen nicht verwandten Individuen (r=0.0).

Wenn die Population groß genug ist, dass es genug Individuen gibt, die nicht direkt miteinander verwandt sind (in gerader Linie, wie bei Geschwistern oder Eltern und Kindern), hat die Inzucht deshalb weit weniger gravierende bis sogar kaum vorhandene Auswirkungen.

Ob sich Inzucht schädlich auswirkt hängt aber nicht nur von der Gesamtgröße der Population ab, sondern auch von ihrer effektiven Populationsgröße. Sie berücksichtigt, dass in einer Population nicht alle Individuen sich uneingeschränkt fortpflanzen können. Ein Teil der Population fällt aus dem Fortpflanzungsgeschehen heraus, weil er entweder zu alt ist und nicht mehr an der Reproduktion teilnimmt oder weil er noch zu jung ist, um sich an der Fortpflanzung zu beteiligen. Auch wirkt sich das Geschlechterverhältnis auf die effektive Populationsgröße aus. Eine Population von 100 Individuen mit einem Geschlechterverhältnis von 50:50 hat eben eine ganz andere effektive Populationsgröße als eine gleichgroße Population mit dem Geschlechterverhältnis 80:20. Im ersten Fall werden nämlich alle einen Geschlechtspartner finden, die effektive Populationsgröße beträgt also 100. Im zweiten Fall ist aber nicht für jeden der 80 Individuen des einen Geschlechts ein Partner des anderen vorhanden. Solange die effektive Populationsgröße groß genug ist, dass langfristig die genetische Vielfalt erhalten bleiben kann, wird eine Population nicht aussterben - zumindest nicht durch Inzucht. Denkbar wäre natürlich, dass bei einer kleinen Population immer auch eine Naturkatastrophe zum Auslöschen der gesamten Population führen könnte.

Und schließlich muss man sich die Frage stellen: sind die Sentinelesen wirklich isoliert? Oder kommt es nicht gelegentlich doch zu einem Genfluss aus anderen menschlichen Gruppen?

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

Ich schätze, dass es im Golf von Bengalen und in der AndamanenSee einen gewissen Schiffsverkehr bzw. mit Booten gegeben hat, so hat es einen gewissen Bevölkerungsaustausch gegeben. Durch die Inzuchtlinien gab es einen starken Selektionsdruck, wodurch defekte Gene ausgeschieden worden sind.

Vergleich OT: Die Ashkenasischen Juden in Europa waren / sind heute noch durch Inzucht beeinträchtigt. Es wird angenommen, dass zum Ende der Römerzeit, wenige tausend Juden im Rheinland zurückgeblieben sind. Das sind die Vorfahren der Ashkenasi. Sie haben einen relativ hohen Anteil an DNA-Defekten.