Kennt jemand noch weitere Beispiele für extrem kostspieliges (oder sogar Menschenleben zerstörendes) Versagen von Software-Entwicklern?

1 Antwort

Ein ziemlich peinliches Beispiel wäre noch der Mars Climate Orbiter:

https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/mars-climate-orbiter-absturz-wegen-leichtsinnsfehler-beim-rechnen-a-44777.html

Bei deinem Beispiel mit der britischen Post würde ich aber nicht zwingend sagen, dass die Entwickler hier die Hauptschuld haben. Solche Software-Fehler passieren leider immer mal und den Behörden in UK muss durchaus klar gewesen sein, dass es möglicherweise ein Problem mit der Software gibt. Wenn dies dann aber nicht untersucht wird und die Schuld einseitig den Benutzern gegeben wird, dann sehe ich bei den Behörden die Hauptschuld an diesem Drama.

Woher ich das weiß:Berufserfahrung – Entwickle Anwendungen für iOS, iPadOS und macOS beruflich.
grtgrt 
Fragesteller
 21.01.2024, 15:09

Ja, da kann ich Dir schon zustimmen.

Mir ist ja auch klar, dass — mindestens, wo Software-Entwickler zum Festpreis anbieten mussten — ihr Test natürlich nur zum Ziel haben wird, Fehler zu finden, welche sonst noch während der Gewährleistungsfrist gefunden würden.

Eben deswegen muss der Betreiber der Software ständigen, weit ausführlicheren End-to-End-Test organisieren, was man hier ganz offensichtlich nicht in ausreichendem Maße tat.

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grtgrt 
Fragesteller
 21.01.2024, 17:33
@grtgrt

Zudem ist klar: Es haben hier nicht nur Software-Entwickler, sondern vor allem auch Juristen versagt, die über Jahre hinweg Revisionsanträge abgelehnt haben. Sie konnten sich ganz offensichtlich nicht vorstellen, dass selbst ein ERP-System falsch rechnen kann.

In ihrer Verzweiflung bekannten sich einige Postangestellte schuldig

u.A. auch deswegen, da ihnen Postmanager Unterlagen verweigert hatten, die dazu dienen hätten können, ihre Unschuld zu beweisen. Wie ich mal las, hat man sie ganz bewusst in einigen Fällen sogar vernichtet, noch bevor die gesetzlich spezifizierte Aufbewahrungsfrist abgelaufen war. Hier also haben wirklich alle versagt: die Entwickler des Systems, seine Tester, ihr Auftraggeber und auch die Justiz.

https://www.sueddeutsche.de/politik/horizon-post-office-skandal-justiz-grossbritannien-1.6330303

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grtgrt 
Fragesteller
 21.01.2024, 18:43
@grtgrt Interessant finde ich, wie lange jener Skandal sich schon hinzieht und die Justiz ihn noch nicht als voll aufgearbeitet abhaken kann:

Man liest (eben jetzt, im Januar 2024) als aktuellen Pressebericht auf Seite https://www.aljazeera.com/news/2024/1/9/the-great-british-post-office-scandal-explained Folgendes:

Parmod Kalia war einer von denen, die zu Unrecht inhaftiert wurden. Fälschlicherweise beschuldigt, mehr als 20.000 Pfund (nach heutigem Kurs 25.500 Dollar) in die eigene Tasche gesteckt zu haben, wurde Kalia 2001 zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt. Der Postmeister aus dem Südosten Londons hatte sich sogar dazu hinreißen lassen, sich Geld von seiner Mutter zu leihen, um die angebliche Geldlücke zu schließen. Doch überzeugt von den Horizon-Daten setzte die Post ihre Strafverfolgung gegen ihn fort. Erst im Jahr 2021 wurde seine Verurteilung aufgehoben.

Ein weiterer Fall war Seema Misra. Die englische Postangestellte war in der achten Woche schwanger, als sie 2010 zu einer 15-monatigen Haftstrafe wegen Betrugs verurteilt wurde, nachdem sie für eine Kassendiskrepanz von 74.000 Pfund (94.000 Dollar nach heutigem Kurs) verantwortlich gemacht worden war.

"Ich war gewarnt worden, dass ich ins Gefängnis kommen könnte", erzählte sie einer britischen Zeitung von ihrem Leidensweg. "Aber ich konnte mir wirklich keine Sekunde lang vorstellen, wie ich für etwas, das ich nicht getan hatte, so bestraft werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch Vertrauen in das Justizsystem. Als der Richter sagte, dass ich zu 15 Monaten Haft verurteilt worden sei, wurde ich ohnmächtig. Wenn ich nicht schwanger gewesen wäre, hätte ich mir das Leben genommen. Ich war am Tiefpunkt angelangt.

Wie Kalia wurde auch ihre Verurteilung erst 2021 aufgehoben.

Wie wird es weitergehen?

Inmitten der anhaltenden politischen Anschuldigungen, dass die Entschädigungszahlungen der Post an die betroffenen Arbeitnehmer nur schleppend vorankommen, hat die TV-Dramatisierung des Skandals neue öffentliche Empörung darüber ausgelöst, dass die meisten der zu Unrecht Beschuldigten noch immer keine Gerechtigkeit erfahren haben.

Die britische Regierung steht nun unter massivem öffentlichen Druck, das laufende Gerichtsverfahren zur Überprüfung der Verurteilungen zu beschleunigen.

Die Regierung erwägt [ warum erst jetzt? ] eine Reihe von Optionen, einschließlich der Einführung von Rechtsvorschriften zur Aufhebung aller Verurteilungen von Postangestellten, die in den Skandal verwickelt sind.

Die nächste Phase der öffentlichen Untersuchung wird eine Anhörung in London nächste Woche sein, und es wird erwartet, dass sich die Untersuchung bis Mitte des Jahres hinziehen wird.

Premierminister Rishi Sunak, der am Sonntag zu der Affäre befragt wurde, nannte die Verurteilungen einen "entsetzlichen Justizirrtum".

Auf die Frage von Laura Kuenssberg von der BBC, ob die Post, die sich im Besitz der britischen Regierung befindet, von ihrer Rolle im Berufungsverfahren entbunden werden sollte, fügte er hinzu: "Natürlich sind all diese Dinge rechtlich kompliziert, aber [wir] untersuchen genau die Bereiche, die Sie beschrieben haben. Es ist richtig, dass wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, um den Menschen, die damals so ungerecht behandelt wurden, zu ihrem Recht zu verhelfen."

Fazit:

Ist es nicht extrem Besorgnis erregend, dass
  1. derart viele Menschen Opfer eine unprofessionell abgewickelten IT-Projekts werden können und
  2. selbst derzeit - knapp 25 Jahre später nachdem eine der ersten Unschuldigen verurteilt worden war, noch keineswegs alle voll rehabilitiert und entschädigt worden sind (von den schon im Gefängnis Verstorbenen mal ganz abgesehen)?
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grtgrt 
Fragesteller
 21.01.2024, 19:47
@grtgrt Die britische Regierung erwägt nun finanzielle Sanktionen gegen den japanischen Konzern wegen des Post-IT-Skandals.  

Mehr als 700 ehemalige Filialleiter des Staatskonzerns Post Office, sogenannte Sub-Postmaster, wurden zwischen 1999 und 2015 aufgrund des durch Fu­jitsu nun zugegebenen IT-Fehlers von zu Unrecht wegen Untreue und Diebstahls verurteilt. Mehr als 200 mussten sogar ins Gefängnis. Bislang sind erst 93 Fehlurteile aufgehoben worden.

Sunak sagte, alle Geschädigten sollten „schnell rehabilitiert und entschädigt werden“. Das Unrecht der Vergangenheit solle wiedergutgemacht werden.

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grtgrt 
Fragesteller
 21.01.2024, 19:56
@grtgrt

Geschichte der Aufarbeitung des Fehlers: https://en.wikipedia.org/wiki/British_Post_Office_scandal

Prozessende 2025 erwartet

Doch Fujitsu hatte jahrelang behauptet, das Programm sei fehlerfrei. Zu Jahresbeginn hatte eine Serie des Senders ITV dem Skandal breite Aufmerksamkeit beschert. Das führte dazu, dass die Regierung den Betroffenen eine Entschädigung zusagte.

Der derzeitige Postminister der britischen Regierung, Kevin Hollinrake, gab an, dass man erst nach Abschluss der öffentlichen Untersuchung zum Skandal mit Fujitsu über die Entschädigung verhandeln werde. Die Anhörungen laufen mindestens bis Sommer 2024 weiter und ein Endbericht wird frühestens 2025 erwartet. Nur eine kleine Minderheit hat bisher eine Entschädigungssumme erhalten.

https://taz.de/Britischer-Justiz-Skandal/!5983205/

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grtgrt 
Fragesteller
 21.01.2024, 20:09
@grtgrt

Der Europachef von Fujitsu hat die Bearbeitung von Zeugenaussagen zur Verteidigung des IT-Systems Horizon, die bei der Strafverfolgung von Unterpostmeistern verwendet wurden, als "beschämend" bezeichnet.

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grtgrt 
Fragesteller
 21.01.2024, 20:19
@grtgrt

ABER: Fujitsus „Sorry“ kam erst, nachdem andere Regierungsaufträge des Konzerns in Milliardenhöhe zunehmend hinterfragt wurden und 10 Downing Street Fujitsus Beteiligung an der Entschädigung gefordert hatte.

Nun sollten Geschädigte jeweils bis zu 100.000 Pfund erhalten. Es liegen mehr als 2400 Anträge vor. Weder beim Post Office noch bei Fujitsu wurden bislang Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen.

https://news.sky.com/story/post-office-scandal-horizon-it-system-had-bugs-since-1999-as-fujitsu-boss-slams-shameful-edits-of-witness-statements-13051568

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grtgrt 
Fragesteller
 21.01.2024, 20:27

Das britische Wirtschaftsministerium hat der Post Office Ltd. insgesamt eine Milliarde Pfund (rund 1,2 Milliarden Euro) überwiesen, zuletzt Ende 2021 einen großen Kredit, um die Folgen des Skandals zu decken. Das Unternehmen teilte mit, es tue ihm „zutiefst leid, welche Folgen der Horizon-Skandal hatte“. 

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mehr-wirtschaft/post-in-grossbritannien-700-filialleiter-zu-unrecht-verurteilt-17807158.html

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grtgrt 
Fragesteller
 22.01.2024, 14:21
@grtgrt Die britische Regierung erwägt nun auch finanzielle Sanktionen gegen den japanischen Konzern wegen des Post-IT-Skandals.

Mehr als 700 ehemalige Filialleiter des Staatskonzerns Post Office, sogenannte Sub-Postmaster, wurden zwischen 1999 und 2015 aufgrund des IT-Fehlers von Fu­jitsu zu Unrecht wegen Untreue und Diebstahls verurteilt. Mehr als 200 mussten sogar ins Gefängnis. Bislang sind erst 93 Fehlurteile aufgehoben worden.

Der eigentliche Skandal ist, dass Fujitsu sich über viele Jahre hinweg gegen besseres Wissen standhaft geweigert hat, das Vorliegen gravierender Fehler ihrer Implementierung auch nur zuzugeben.

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/sanktionen-gegen-fujitsu-nach-software-skandal-19438844.html

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grtgrt 
Fragesteller
 21.01.2024, 22:48
Das selbst heute noch gegebene Fehlerbild:

Eine Gruppe, die fast 1.000 Unterpostmeister in ganz Großbritannien vertritt, hat gegenüber Sky News erklärt, dass das Post Office Horizon System immer noch unerklärliche Defizite verursacht, die die Unternehmen ruinieren.

Voice of the Postmaster (VotP), gegründet um eine Kampagne für die derzeitigen Mitarbeiter zu führen, behauptet, dass die in Verruf geratene IT-Software immer noch mysteriöse Geldausfälle verursacht.

Marlene Wood, Postmeisterin im Comrie Crieff Post Office in Perthshire, behauptet, dass die offensichtlichen Defizite, mit denen sie konfrontiert ist, sicher auch mit Horizon zusammenhängen und ihre Gewinne auffressen.

Die 53-Jährige, die die Filiale seit mehr als vier Jahren leitet, sagte Sky News:

"Mein Geschäft geht den Bach runter. Ich werde untergehen, zum Teil wegen der Diskrepanzen, die ich zurückzahle".
"Es gibt immer wieder Fehler."

Frau Wood behauptete z.B., dass es z.B. mal eine Diskrepanz von ein paar hundert Pfund gab.

https://news.sky.com/story/post-office-scandal-distressed-sub-postmasters-say-horizon-system-still-causing-mystery-shortfalls-13051799

"Ich ging zu Bett, wachte auf, meldete meinen Bargeldbetrag neu an und es gab keine Diskrepanz mehr.
Ich will nicht sagen, dass Horizon an allem schuld ist, aber nicht in dem Maße, dass man ins Bett geht und Diskrepanzen auf magische Weise verschwinden.
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grtgrt 
Fragesteller
 22.01.2024, 14:56
Gefängnis, Ruin, Tod

Den betroffenen Post-Filialleitern war wegen eines mangelhaften Computersystems Diebstahl oder Betrug zur Last gelegt worden. Computer der britischen Post gaben fälschlicherweise an, dass aus Filialen Geld entwendet worden war. Bislang sind nur die Verurteilungen in 93 Fällen gekippt worden. Einige Beschuldigte mussten ins Gefängnis, viele erlebten neben sozialer Ächtung auch den finanziellen Ruin, weil sie der staatlichen Post viel Geld zahlen mussten. Mehrere begingen Suizid.

Der einstige Filialleiter Alan Bates hatte zusammen mit Mitstreitern nach zweijährigem Prozess im Dezember 2019 erreicht, dass das High Court grundsätzlich feststellte, dass Computerfehler und nicht Straftaten die Ursache für die Fehlbeträge waren.

Der Richter hielt der Post "institutionelle Halsstarrigkeit" vor, da sie die wahren Ursachen der Abrechnungsprobleme nicht ordentlich untersucht habe.
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grtgrt 
Fragesteller
 22.01.2024, 15:17
Skandal ist noch immer nicht aufgearbeitet

Tatsächlich gingen die Anwälte der Post auch dann noch gegen unschuldige Mitarbeiter vor, als es glaubwürdige Hinweise auf Horizon als Fehlerquelle gab. Der Skandal ist noch lange nicht aufgearbeitet. Auch die im Februar 2022 eingeleitete Untersuchung, wer im Post-Management wann von den ungerechtfertigten Vorwürfen wusste, ist noch nicht abgeschlossen. 

https://www.tagesschau.de/ausland/europa/post-skandal-grossbritannien-100.html

Auch die Post (als Betreiber des Systems) gesteht Fehler ein:

Nach der TV-Serie über den Skandal schwappte eine neue Welle der Empörung durch das Land. Mehr als eine Million Menschen unterzeichneten eine Petition, die sich gegen die damalige Postchefin Paula Vennells richtete.

Die gab deswegen dann eine königliche Auszeichnung zurück. Sie werde auf den Titel "Commander of the Order of the British Empire" verzichten, der ihr 2018 verliehen worden war.

"Es tut mir aufrichtig leid für die Zerstörung, die den Unterpostmeistern und ihren Familien zugefügt wurde, deren Leben zerrissen wurde, weil sie zu Unrecht beschuldigt und aufgrund des Horizon-Systems zu Unrecht verfolgt wurden",

sagte Vennells.

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grtgrt 
Fragesteller
 22.01.2024, 15:27

In Summe lässt sich feststellen:

Wo man als Ersteller oder Betreiber von Software, darin vermutetem Fehlverhalten nicht sofort und gründlich nachgeht, kann das für sehr viele Menschen ganz extrem unangenehme Folgen haben.
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