Nein. Religionen behaupten, dass sie zur Moralität beitragen. Es hapert aber an den Beweisen, dass dies der Fall ist.
Ein Beispiel aus den USA: Wenn man Christen und Atheisten dazu befragt, ob Ehescheidung erlaubt sein sollte, sind die Verhältnisse klar: Eine absolute Mehrheit der (protestantischen) Christen ist dagegen und will Ehescheidung verbieten. Eine absolute Mehrheit der Atheisten ist dafür, dass Scheidung erlaubt sein soll. In beiden Gruppen finden wir aber auch eine Minderheit, die anderer Meinung ist.
Dann stellte Barna von Barna Research (ein christlicher Think-Tank) eine entscheidende Frage: Wer hat sich schon einmal scheiden lassen?
Die Gruppe mit der höchsten Scheidungsrate ist … Überraschung … die Gruppe der Protestanten. Diese liegt noch vor den Juden, bei denen Ehescheidung erlaubt ist. Ganz hinten liegen fast gleichauf die Gruppe der Katholiken -- und die Atheisten.
Wobei ich vermute, dass die Gruppe der Katholiken ihre Ergebnisse geschönt hat. Im Katholizismus ist Ehescheidung verboten, aber nicht unmöglich. Man kann seine Ehe unter Angaben von Gründen auch annullieren lassen. Dann wird so getan, als ob es nie eine Ehe gegeben hätte. Man hat die Ehe effektiv geschieden, muss dies aber nicht als Ehescheidung bezeichnen. Bei den Atheisten gibt es derlei Tricksereien nicht.
Barna hat einige Zeit später einen offenen Brief veröffentlicht (aber leider inzwischen wieder zurückgezogen), indem er sich beklagt, dass christliche Kritiker ihm unsaubere Arbeit unterstellen (meiner Ansicht nach eine verfehlte Unterstellung). Weil nämlich eine Untersuchung nach der anderen zeigt, dass es im Verhalten entweder keine Unterschiede zwischen Christen und Atheisten gibt, oder dass diese nicht zugunsten der Christen ausfallen. Fragt man nach der Meinung, dann sieht es anders aus -- alles immer gemessen an christlichen Maßstäben.
In den USA, im sog. "Bible Belt", gibt es gegenüber den eher säkularen Bundesstaaten, einen signifikanten Unterschied im Verhalten. In den Bibelstaaten gibt es mehr Gewalt, mehr Morde, mehr Promiskuität, mehr Ehescheidungen etc. pp.
Weltweit ist es so, dass es eine signifikante Korrelation gibt zwischen dem Global Peace Index, der die Friedfertigkeit eines Landes misst, und der Anzahl der Atheisten in einem Lande. Je mehr Atheisten in einem Staat leben, umso friedlicher ist er auch. Man kann Ausnahmen finden, aber nur wenige. Ausnahmen widerlegen übrigens keine Statistik.
Wir Psychologen wissen aus vielen Untersuchungen, dass Meinungen und Verhalten oft nicht übereinstimmen. So hat man die Menschen in einer großen Siedlung gefragt, ob sie Mülltrennung befürworten und auch selbst durchführen. Beides wurde überwiegend mit Ja beantwortet. Als man aber den Müll selbst durchsuchte, fand man, dass erheblich weniger Leute Müll trennen als angegeben wurde.
Wenn Leute über dieses Thema diskutieren, dann finden wir meist nicht mehr als „anekdotische Evidenz“, bei denen Beispiele der einen Seite gegen die der anderen Seite aufgerechnet werden. Überwiegend werden dabei die Extreme genommen. Das ist an Willkürlichkeit kaum zu überbieten. Ich kann in jeder hinreichend großen Gruppe Gewalttäter und Friedensstifter finden. Wenn ich die Gewalttäter der einen gegen die Friedensstifter der anderen Gruppe „aufrechne“, kann ich mir jede Seite schönreden. Oder man zieht sich gleich auf „Meinungen“ zurück oder Selbstauskünfte, oder betrachtet alles aus seiner eigenen Froschperspektive.
Solche Antworten kann man gleich wegwerfen, sie haben mit der Frage nichts zu tun. Sie spiegeln nur die Ansicht des Antwortenden wider.
Denn eines muss ich dazu sagen: Als Atheist ist es mir völlig gleichgültig, ob Atheisten moralischer sind als Gläubige oder nicht. Selbst wenn Atheisten hundertmal schlimmer wären, als Gläubige meinen, und Gläubige hundertmal besser -- wäre ich immer noch Atheist.
Die Theorie der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg beschreibt die Entwicklung der Moral in Menschen. Sie besteht aus drei Ebenen, die jeweils zwei Stufen enthalten:
Präkonventionelle Ebene:
Stufe 1: Orientierung an Autoritäten. Regeln werden eingehalten, um Bestrafungen zu vermeiden.
Stufe 2: Orientierung an den eigenen Bedürfnissen. Regeln einzuhalten, wird als eine Art zwischenmenschlicher Austausch zur Bedürfnisbefriedigung verstanden.
Konventionelle Ebene:
Stufe 3: Orientierung an zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Erwartungen der Mitmenschen wollen erfüllt werden, da die Beziehung zu ihnen als wichtig wahrgenommen wird.
Stufe 4: Erfüllung des Ordnungs- und Rechtssystems
Postkonventionelle Ebene:
Stufe 5: Verständnis des Systems als Gesellschaftsvertrag.
Stufe 6: Entwicklung eines subjektiven Gewissens.
Es ist wichtig zu beachten, dass nicht jeder Mensch alle sechs Stufen durchläuft. Welche Stufe erreicht und dann gehalten wird, ist von unterschiedlichen Einflüssen abhängig – beispielsweise der Erziehung und den persönlichen Erfahrungen.
Der größte Teil der religiösen Moral ist präkonventionell-autoritär. Moral kommt von einer Autorität: Gott. Vermittelt wird das durch Eltern und Priester. Wer die Moral einhält, der wird später belohnt, wer nicht, bestraft. Damit handelt es sich um die unterste Stufe der moralischen Entwicklung. Die meisten Religionen versuchen, den Menschen dort zu behalten. Wer nach religiöser Ansicht moralisch ist, ist eigentlich eher jemand, der auf der untersten Stufe stehengeblieben ist. Das ist auch die bequemste Moral, sie achtet nur darauf: Was muss ich tun, um den Autoritäten (Gott) zu gefallen? Keinerlei Überlegung, dass Moral dazu dienen sollte, die Probleme menschlichen Zusammenlebens zu lösen. Es werden stets dieselben Problemlösungen angewandt, auch auf neue Probleme. Es geht nicht darum, Schaden für andere zu vermeiden, denn das geht durch das sture Befolgen fester Regeln nicht immer.
Wirklich moralisch nennen kann man nur die, nicht einfach Regeln befolgen, sondern die autonom die Entscheidungen treffen, die einem höheren Ziel dienen als der Erlangung von Belohnungen und dem Vermeiden von Strafen. Oder, wie Kant es sagte, eine jede Moral setzt das moralische autonome Subjekt voraus. Wer aufgrund eines autoritären Zwangs handelt, handelt nicht moralisch. Der Kassierer, der das Geld dem bewaffneten Bankräuber aushändigt, begeht objektiv den Tatbestand der Veruntreuung. Aber wir machen ihn nicht verantwortlich, weil er aufgrund eines Zwangs handelte, er musste sein Leben und eventuell das von Kunden schützen. Wer unter dem Zwang einer Höllendrohung oder wegen des ewigen Lebens handelt, handelt nicht um moralisch.
Natürlich kann ein Christ auch moralisch handeln -- sofern er im Moment des Handelns Gott vergisst und nicht an die persönlichen Konsequenzen des Verlusts des Paradieses handelt, oder unter der Drohung einer Höllenstrafe. Sobald die Autorität Gottes ins Spiel kommt, und Belohnung/Bestrafung, gibt es kein moralisch autonomes Subjekt und daher keine moralische Handlung. Damit es überhaupt eine Moral geben kann, darf es keinen Gott geben. Oder der Betreffende muss handeln wie ein Atheist, der nicht an Gott glaubt.
Wir sehen auf der Verhaltensebene kaum einen Einfluss der Drohung eines Gottes, weil der alles verzeiht, und weil man beichten kann, um den Konsequenzen auszuweichen.
Die Frage, woher die Moral Gottes kommt, ist in diesem Zusammenhang auch wichtig. Das kann man auch wissenschaftlich beantworten, siehe: https://www.patheos.com/blogs/epiphenom/2009/12/what-you-want-god-wants.html. Die Moral Gottes, so zeigt die Untersuchung eindeutig, ist immer die Moral desjenigen, der an Gott glaubt. Ändert jemand seine Meinung in einer moralischen Frage, ändert sein Gott diese Ansicht ebenfalls. Daher gibt es immer eine hundertprozentige Übereinstimmung zwischen der Moral des Gläubigen und der seines Gottes. Gott hat keine eigenen moralischen Ansichten.
Das ist auch der Grund, warum die Bibel Sklaverei rechtfertigt. Sie tut es, auch wenn Apologeten allerlei mentale Gymnastik veranstalten, um das zu bestreiten. In jeder moralischen Streitfrage der Menschheit gab es immer Christen auf beiden Seiten, und daran hat sich nichts geändert. Wenn die Mehrheit für Sklaverei war, war auch die Mehrheit der Christen für Sklaverei. Wenn die Mehrheit dagegen ist, sind auch die Christen mehrheitlich dagegen. Ist die Mehrheit gegen die Todesstrafe, wie in Europa, sind auch die meisten Christen dagegen. Gibt es eine Mehrheit für die Todesstrafe, wie in den USA, ist auch die christliche Mehrheit dafür. Es gibt für Christen keine objektive Moral, auch wenn sie gerne das Gegenteil betonen. Es gibt nur ein „meine eigene Moral ist die von Gott, und daher absolut“.
In Wahrheit ist man so relativistisch oder utilitaristisch wie eben Menschen an sich. Ein Teil unserer Moral ist angeboren, das kann man anhand diverser Untersuchungen von Psychologen und Anthropologen beweisen. Ein Teil kommt von Autoritäten (Eltern, Staat), und ein unterschätzter Anteil von Gleichaltrigen.
Selbst kleine Kinder verstehen schon, dass man Regeln braucht, wenn man zusammenspielen möchte. Sie können diese Regeln untereinander aushandeln, ohne dafür Erwachsene oder Autoritäten zu benötigen. Wenn man eine Autorität benötigt, dann weil man auf der untersten Stufe der Entwicklung stehengeblieben ist. Wenn schon kleine Kinder das beherrschen, wieso spricht man es dann erwachsenen Menschen ab?
Moral ist ein mächtiger Manipulator, wer über die Moral bestimmt, beherrscht eine Gesellschaft. Das haben die großen Religionen stets ausgenutzt. Wer ihre moralische Autorität infrage stellt, wie Atheisten, wird von ihnen entsprechend behandelt, man spricht seinen Feinden die Moral ab, dämonisiert sie.
Die christliche Moral ist entfremdet: Es handelt sich um eine Projektion der eigenen Moral auf Gott, und kommt dann zurück als etwas Fremdes. Deswegen ist die christliche Moral auch nicht in allen Aspekten schlecht, sie ist allgemein menschlich, aber weder göttlich noch spezifisch christlich. Durchgesetzt, gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen, hat sich bei uns der Humanismus, und das ist eine durch und durch atheistische Moral. Man ist entweder Humanist oder Christ, aber nie beides gleichzeitig. Humanismus bezieht sich auf den Menschen, nicht auf Gott.
Die Christen mögen sich damit trösten, dass die ersten Humanisten alle Christen waren. Klar, zu einer Zeit, als man wegen Ketzerei leicht bei lebendigem Leibe verbrannt werden konnte, wo es galt „Taufe oder Tod“, da waren alle Menschen Christen. Die ersten Humanisten haben durch die Rückbesinnung (Renaissance) auf die vorchristlichen antiken Werte der christlichen Moral eine ernste Konkurrenz entgegengestellt. Der Coup war äußerst erfolgreich, man konnte den Christen einreden, dass diese neue Moral völlig christlich war, und damit einer Menge Widerstand vermeiden. Die Christen sind darauf hereingefallen, und preisen sich jetzt dafür.
Aber die autoritäre Moral ist auch immer zugleich rückständig. Das ist die Gefahr, wenn wir vor neuen Herausforderungen stehen, und immer noch mit den alten Problemlösungen hantieren.