Hallo Baxnoj, es gibt so verschiedene und so ungewöhnliche Wege im Leben, dass es tatsächlich möglich ist, ein Leben zu führen, das Dir Spaß macht, das sich nicht nur um die Arbeit dreht. Ich habe mal einen Bericht über einen Mann in der Schweiz gelesen, der hatte gar keine eigene Wohnung, also auch keinen Bedarf, seine Miete zu verdienen, der hat einfach mal hier oder da ein bischen gearbeitet, dort gewohnt und ist dann weiter gezogen.
Der war sehr frei zum Beispiel, ein Außenseiter, aber er hat sein Leben so gelebt, wie er das wollte, wie es für ihn passt. Ich finde solche Lebensentwürfe toll, weil sie eben genau diesen Mut erfordern: nicht dazu zu gehören. Aber vielleicht lohnt es sich: wenn ich mir so meine Nachbarn und Kollegen anschaue, dann erschrecke ich, weil da so viel Unglück und Frust sind über die Zwänge, in die diese Menschen sich begeben haben. Insofern lohnt sich der innere Kampf für die eigene Freiheit.
Was Du mit Dir selber klären musst, ist einfach nur, wieviele finanzielle Zwänge Du hast: Wohnung, Bedarf an Essen oder Kleidung, Auto, Urlaub. Je mehr Du davon brauchst oder willst, umso mehr wirst Du in Druck kommen, Geld zu verdienen. Wenn aber Geld verdienen, Dich unfrei und unglücklich macht, dann ist es ratsam, einfach Deine materiellen Ansprüche richtig runterzuschrauben und Dich nach alternativen Möglichkeiten umzuschauen.
Leb Dich aus, löse Dich von Ängsten, etwas anders zu machen als die anderen oder als Deine Eltern oder als viele Menschen um Dich herum. Spiele halt viel Klavier, wenn es Dich glücklich macht, wer weiß, was sich da entwickelt, woran Du heute noch gar nicht denkst: Du zensierst Dich vielleicht einfach zu sehr in Deinem Kopf, Du beurteilst oder verurteilst das, was Du gerne tust, zu sehr. Weil es vielleicht in irgendein Schema nicht hineinpasst oder nicht sein darf, aber sein möchte. Dann lass es sich entwickeln.
Dennoch möchte ich noch das Folgende schreiben: mit Zwängen, Pflichten und Notwendigkeiten im Leben kann man auch leben lernen, ohne ein schrecklich unglücklicher und unfreier Mensch zu sein. Freiheit ist letztlich etwas sehr innerliches, eine Art zu Denken und zu Fühlen, wir sind nicht frei, nur weil wir keine Arbeit haben oder unfrei, weil wir etwas Unangenehmes oder Pflichterfülltes tun. Freisein entsteht in uns, aber dieses Gefühl tut sich schwer, weil wir eingebettet sind in ein Umfeld mit seinen Ansprüchen und Erwartungen an uns und mit seinen Wertvorstellungen, die wir instinktiv aufnehmen. Sich davon zu lösen, bedeutet schon sehr viel innere Freiheit, sehr viel Abstand auch zu all dem.
Was ich also sagen will ist: Zwänge, Pflichten, Notwendigkeiten müssen uns nicht zwangsläufig erdrücken, es ist eine Herausforderung im Leben, diese Zwänge zu gestalten und über sie zu bestimmen. Sich in einem gewissen Maß - so wie es gut tut - auch für sie zu entscheiden - so muss auch ein begeisterter Klavierspieler langweilige Fingerübungen tun, weil es einen Wert hat, leichtläufige Finger zu haben. So muss man eben auch mal arbeiten, weil Freiheit nicht fair ist, wenn andere dann für Dich aufkommen müssen und deshalb in ihrer eigenen Freiheit und Entfaltung unter Druck kommen. Das ist eben auch nicht gerecht oder nett. Doch das ist nicht, was mir hier wichtig ist, Dir zu sagen.
Wichtig ist mir, zu sagen, dass Du Dir die Freiheit nimmst, über Deine Zwänge zu entscheiden, weil sie für ein wichtiges persönliches Ziel wichtig sind. Und dass Du innerlich Abstand gewinnst, wenn sie Dir zu viel werden. Dass Du abschätzen lernst, wann es Zeit ist, etwas Konkretes an Deiner Situation zu ändern. Und wenn ein bürgerliches Leben mit Häuschen und Garten oder das Streben nach sozialem Prestige über Dein Engagement in Schule, Studium und Beruf zu viele Zwänge bedeuten, Dich unfrei machen und unglücklich, dann gehst Du halt einen anderen Weg. Dann nimmst Du in Kauf, was Du nicht haben kannst, damit Du etwas erreichst oder lebst, was Dir wichtiger ist. Probier es aus, was das sein kann. Spiel mit dem, was Dir das Leben an Fragen in den Weg legt. Wie ein Jongleur, der mit vielen Bällen gleichzeitig spielen musst, spielst Du mit den Herausforderungen der menschlichen Existenz.
Bei diesem Spiel, bei dieser Reise durchs Leben wünsche ich Dir viel viel Erfolg und Freude.
LaToulousaine
PS: und lass Dir nicht erzählen, daß man kein Klavier mehr spielen kann, nur weil man einen zehn-Stunden-Tag im Büro hinter sich hat. Gerade weil man einen langen Tag, ist es schlau, besonders viel Klavier zu spielen. Alles Gute für Dich